Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
Vom Netzwerk:
fähigster Gehilfe hätte keine bessere Arbeit leisten können«, lächelte sie. »Laß mich jetzt allein!« Sie konnte kaum erwarten, bis der Palast am späten Nachmittag zu neuem Leben erwacht war. Angekleidet war sie bereits. Sie trug ein dünnes grünes Gewand, das unter den Brüsten von einem breiten goldenen Band gehalten war. Ihre Füße steckten in Sandalen, und auf dem Bett lag der dichte Schleier, mit dem sie sich vorerst noch verhüllen würde. Ariadne war so unruhig, daß sie keinen Augenblick stillsitzen konnte. Als der Himmel im Westen sich endlich rötete, seufzte sie erleichtert auf.
    Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, und der Zug der Mysten würde sich formieren. Sie wußte, wohin sie gehen würden: hinauf, zu der großen Felsenterrasse, hoch über dem Wasser. Das war der heilige Ort in Zakros, wo zweimal im Jahr zum Sonnwendfest die Feuer entzündet wurden, um der Göttin für das ewige Rad von Sterben und Leben zu danken.
    Dort würde sie Asterios wiedersehen. Dort würde sie auch jenen attischen Prinz namens Theseus wiedertreffen, der ihr seit Wochen nicht mehr aus dem Sinn ging. Und diesmal stand ihr die jüngere Schwester nicht im Weg. Hyla hatte in Erfahrung gebracht, daß Phaidra an Pasiphaës Seite längst wieder nach Phaistos zurückgekehrt war.
    Für diese Nacht hatte Ariadne eine ganz besondere Überraschung bereit. Ihre Augen strahlten, und ihr Lächeln bekam einen grausamen Zug. Sie glühte wie von einem inneren Feuer. Denk an mich, Asterios, flüsterte sie lautlos. Denk an mich, Theseus. Keiner von euch wird diese Nacht je vergessen.
     
    Vom südlicheren der beiden Hügel sah man hinunter in die Schlucht und konnte die Eingänge zu den zahllosen Höhlen erkennen. Seit altersher wurden hier die Toten bestattet. Die Menschen in Zakros balsamierten ihre Verstorbenen ein und legten sie in einen Sarg, den sie mit Blumen und Laub schmückten. Unter Trommelwirbel und Flötenklang brachten sie die sterblichen Überreste schließlich in einem feierlichen Zug in die Schlucht. Dort wurden sie in den Höhlen zur ewigen Ruhe gebettet.
    Jeder in Zakros schien daran gewöhnt, in der Nähe der Toten zu leben. Die Gräber waren tief genug in die Felsen getrieben, um die Bestatteten vor Raubvögeln zu schützen, und weit genug von der Stadt entfernt, um die Hygiene der Lebenden nicht zu gefährden. Sie lagen jedoch nah genug, um die Verstorbenen oftmals zu besuchen und an ihrem Grabeingang zu beten. Blumen, Früchte und kleine Räucherpfannen waren Zeugnisse dieses lebendigen Ahnenkultes. Wenn die Menschen auf Kreta auch glaubten, daß die Seele sich mit dem Großen Ganzen vermählte, um zu sterben und wiedergeboren zu werden, so half dieser Brauch doch, den Schmerz zu lindern und neue Hoffnung zu spenden.
    Den attischen Mysten schien diese Vorstellung sehr fremd zu sein. Nachdem Daidochos sie flüsternd auf die Höhlen und ihre Verwendung aufmerksam gemacht hatte, spähten sie immer wieder ängstlich hinunter. Theseus hatte Freude daran, ihr Unwohlsein zu verstärken.
    »Wie praktisch und bequem«, zischte er seiner kleinen Gefolgschaft zu. Sogar ein paar von den anderen, die sich sonst von den Rebellen fernhielten, standen heute eng bei ihnen. »Wenn sie uns erledigt haben, können sie uns gleich dort unten verscharren. Ein Festmahl für die Geier! Die warten schon!« Er deutete zum Abendhimmel hinauf. Die Mysten zuckten zusammen und starrten dann hinüber zum Altar. »Aber da liegen doch nur Blumen und ein paar Brote«, wandte Eriboia zaghaft ein. »Nirgends sind Waffen zu sehen!«
     
    »Kennst du dich vielleicht mit ihren abscheulichen Gebräuchen aus?« fuhr Theseus sie an. »Wenn sie uns auch nicht umbringen, müssen wir doch sicher wieder diese Giftbrühe trinken, die uns langsam den Verstand raubt. Vielleicht werden wir dann zu Schweinen und fangen an, uns im Schlamm zu wälzen. Seid nur folgsam und brav! Ich sehe mich jedenfalls für alle Fälle schon einmal nach einer Waffe um.«
    Er ging zum Kreis hinüber, der abwechselnd aus hellen und dunklen Steinen gebildet war, und packte einen von ihnen.
    Asterios, der die Szene aus der Nähe verfolgt hatte, trat rasch auf ihn zu. »Leg ihn sofort wieder an seinen Platz«, befahl er. Sein Ton ließ keinen Widerspruch zu. »Du wirst die Würde dieser Stunde nicht stören!«
    Überrascht gehorchte Theseus. Mit kalten, bösen Augen ging er zu den anderen zurück. Asterios sah, wie sie zu tuscheln begannen und eingeschüchtert zu ihm

Weitere Kostenlose Bücher