Palast der blauen Delphine
dem Feuer saß, war er leise von hinten an ihn herangetreten, hatte seinen Kopf mit beiden Händen gefaßt und ihn einen Augenblick in einer sanften, beinahe zärtlichen Berührung gehalten. Das war bereits genug. Als wäre ein Damm gebrochen, schossen ihm die Tränen in die Augen. Asterios, Priester der Göttin, Ziehsohn Meropes und Sohn der Königin Pasiphaë, weinte wie noch nie zuvor in seinem Leben. Die Erstarrung in seiner Brust schmolz unter seinem heftigen Schluchzen.
Ich bin, der ich bin, dachte er und hatte wieder Hatasus schwarze Augen vor sich. Sie hatte ihm damals in der Nacht des Feuerrituals geholfen, sich selbst zu erkennen. Er wünschte, sie wäre heute wieder bei ihm.
Er blinzelte hinauf zum Himmel und sah die Mondkugel zwischen den Bergkämmen stehen. Er fühlte, wie Kraft und Zuversicht zurückkehrten. Ich bin, der ich bin, bewegten sich lautlos seine Lippen. »Der Sternengleiche« bedeutet mein Name, und ich trage ihn zu Recht.
Asterios schaute hinab in die dunkle Ebene, in der er nur einzelne Feuer leuchten sah, und eine tiefe Liebe zu diesem Land erfaßte ihn. Er war bereit, sich dem Athener mit den kalten Augen zu stellen. Wenn es seine Bestimmung war, für Kreta zu sterben, würde er sich in sein Schicksal fügen. Aber er würde alles versuchen, um Ariadne vor ihm zu retten. Schließlich war er der Sohn der Einen Mutter, der Lilienprinz, den die Weisen Frauen so sehnlich erwartet hatten, selbst wenn die Priesterinnen es noch immer nicht aufgegeben hatten, sein Tätigkeitsfeld zu beschneiden.
Asterios verzichtete darauf, sich zum Palast kutschieren zu lassen und ging zu Fuß den Hügel hinauf. Es war früher Nachmittag, und die meisten Geschäfte waren noch geschlossen. Aber aus einer Nebengasse drang schrilles Quietschen, dem Asterios folgte, bis er schließlich vor der Werkstatt eines Steinschleifers stand. Im Hintergrund arbeiteten zwei jüngere Männer an Specksteinvasen, in die sie Spiralornamente trieben. Vorne, vor einem hohen Holzgestell, kniete ein älterer Mann auf dem Boden. Zwischen den Holzstäben war ein schmales Rhython aus schimmerndem Bergkristall eingespannt. Mit feinem Sandpapier war er dabei, ihm den letzten Schliff zu geben. Das prachtvolle Gefäß besaß einen wohlproportionierten Hals, den ein Kristallband mit goldenen Bügeln umschloß. Der Henkel bestand aus vierzehn dicken Kristallperlen. Sein Leuchten schien den ganzen Raum zu erhellen.
»Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, stieß Asterios voller Anerkennung hervor. Der Handwerker setzte sein Schleifen fort. »Es muß bis heute abend fertig sein«, sagte er. »Eine Anfertigung für den Palast. Übermorgen, wenn die Feuer auf den Hügeln brennen, erhalten die Mysten daraus das Salz des Lebens.«
»Ich danke dir«, erwiderte Asterios. »Ich werde derjenige sein, der es ihnen daraus reichen darf.«
Er ließ den Handwerker zurück und freute sich im stillen an dessen stummer Verwunderung. In der Regel machte Asterios keinerlei Aufhebens von seinem hohen Amt. Er war davon überzeugt, daß die meisten Leute auf Kreta nicht einmal wußten, daß er seit ein paar Jahren zum Priester der Göttin geweiht war. Die Priesterinnen schienen nicht besonders daran interessiert, es zu verbreiten. Noch immer hatten sie Bedenken und beinahe Angst vor dem männlichen Eindringling in ihrer Mitte.
Als er durch das Palasttor eingelassen wurde, spürte er, daß seine Anspannung wuchs. Die große Aufgabe anzunehmen, war eine Sache. Dem jungen, zornigen Athener von Angesicht zu Angesicht entgegenzutreten, eine andere.
Er sah sich um, entdeckte ihn aber nirgends. Ein kleiner Aufschub schien ihm gewährt. Langsam ging Asterios weiter. Obwohl sein letzter Aufenthalt im Palast von Zakros schon mehr als zwei Jahre zurücklag, kam ihm alles hier vertraut vor. Auf dem großen Hof kam ihm Aiakos entgegen und begrüßte ihn.
»Alles läuft sehr gut«, versicherte er, als sie zusammen zum Osttrakt gingen. »Sie sind fleißig und lernen schnell. Paneb und Kephalos sind so zufrieden mit ihnen, daß ich bald nach Hause fahren kann.« Beide freuten sich über das Wiedersehen, auch wenn sie nicht darüber sprachen. »Du weißt, daß Hatasu auf mich wartet«, fuhr Aiakos fort.
Asterios nickte schnell. Er konnte nicht an sie denken, ohne sich sofort auf seltsame Weise berührt zu fühlen. Er war beinahe überzeugt, daß es ihr ähnlich erging. Sie hatten denselben Vater, aber da war noch mehr, was zwischen ihnen schwang. In den letzten
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