Palast der blauen Delphine
und ernst wie gewöhnlich. Neben den Töchtern und Söhnen der Königin fiel ihm eine schlanke, schwarzhaarige Frau mit rassigen Zügen auf, die er noch nie gesehen hatte.
Die Männer an der Schußlinie waren mit dem Präparieren ihrer Bogen nahezu fertig.
»Ich wäre zu gern einer von ihnen«, stieß Glaukos hervor und sah hinüber zu den Männern mit den Bögen aus glattpoliertem Eibenholz, das in der Sonne glänzte.
»Du kommst auch noch dran«, tröstete ihn Katreus. »Hab noch ein bißchen Geduld! Heute sind erst einmal die erfahrenen Schützen an der Reihe.«
Speziell für diesen Wettbewerb hatte Daidalos die Eisenspitzen geschmiedet. Ikstos legte seinen Bogen an, fixierte das Ziel und schoß. Sein Pfeil blieb dicht neben dem roten Zentrum stecken. Ihm war der Unmut über die winzige Abweichung deutlich anzusehen.
Aiakos’ Pfeil löste sich so geschmeidig wie die Schneelast von einem winterlichen Zweig und traf mitten ins Herz der Scheibe. Einen Augenblick blieb es ganz still. Dann brandete der Beifall auf. Vor allem Daidalos klatschte, bis seine Hände schmerzten. Dabei schielte er immer wieder zu Minos. Erst als dieser zu sprechen begann, entdeckten auch die anderen Zuschauer, was geschehen war. »Bravo, Aiakos!« Er ging nach vorn zur Scheibe. »Der Schmied dieser Pfeile allerdings muß noch viel dazulernen.« Der Pfeil war auf den Boden gefallen. »Daidalos! Komm her!« befahl er.
Der Athener schlich nach vorn wie ein alter Mann.
»Heb ihn auf!«
Er bückte sich.
»Gib ihn her!« Der Kreter drehte den Pfeil spielerisch in seiner Hand. »Wie würdest du den Zustand dieser eisernen Spitze beschreiben?« Seine Stimme war kalt.
»Zerborsten«, flüsterte er.
»Lauter! Niemand kann dich hören!«
»Sie ist zerborsten.« Daidalos war auch jetzt kaum besser zu verstehen. »Beim Eintritt ins Holz zersplittert. Es tut mir leid. Sehr leid.« Gequält sah er zu ihm empor. »All die Wochen ohne Schlaf«, fuhr er fort. »Die Wachen. Die neuen Öfen. Versuche über Versuche. Und dann, ganz plötzlich, eine Hoffnung. Alles schien gut zu werden. Ich war beinahe sicher.«
Die Zuschauer schwiegen betreten. Wie ein Häuflein Elend stand Daidalos vor dem breitschultrigen Kreter und schien mit jedem Augenblick kleiner zu werden. Ikaros fuhr von seinem Hocker auf, Asterios aber drückte ihn wieder nach unten. »Bleib, wo du bist! Du würdest alles nur noch schlimmer machen!« flüsterte er.
» Beinahe ist nicht genug. Beinahe reicht nicht einmal aus, um einen Wettkampf siegreich zu beenden. Beinahe ist vor allem dann zu wenig, wenn der Pfeil im Kampf zum Töten ausschwirrt«, donnerte Minos. » Beinahe kann das Ende für Kreta bedeuten, wenn Feinde an unseren Küsten landen und den Angriff auf unsere Städte und Paläste wagen. Jeder, der den Schutz unserer Insel genießt, wäre davon betroffen. Auch wenn er kein Kreter ist.« Dabei sah er Theseus durchdringend an.
Theseus widerte diese Demütigung an. Du machst einen Fehler, Minos von Kreta, ihn öffentlich bloßzustellen, dachte er grimmig. Daidalos wird dir diesen Tag niemals vergessen. Kein Athener könnte das. Ebenso angriffslustig starrte er zurück.
»Dieser bedauerliche Zwischenfall soll euch nicht um den Wettkampf bringen.« Minos wandte sich mit einem Rest von Beherrschung an die Zuschauer. »Aiakos, Ikstos und ihr anderen, ihr habt genügend solide kretische Pfeile in euren Köchern, um auf diesen Ausschuß verzichten zu können! Zeigt unseren jungen Freunden, was Schützenkunst ist!« Dann erst schien er zu bemerken, daß Daidalos noch immer neben ihm stand. »Komm mit!« sagte er knapp. »Jetzt gleich. Wir haben eine Menge miteinander zu besprechen!«
»War das wirklich nötig?« fragte Daidalos, als sich die Tür der Schmiede hinter ihnen geschlossen hatte. »Ich kann verstehen, daß du enttäuscht bist. Aber du weißt auch, wieviel ich dafür gearbeitet habe.« Er lächelte zaghaft. »Es ist wirklich nicht einfach mit deinen Kretern«, sagte er. »Gib mir andere Leute, und ich liefere dir andere Resultate!«
Minos blieb ihm die Antwort zunächst schuldig. Er ging im Raum umher, schließlich nach hinten, wo die Schmiedefeuer flackerten und zwei Männer gerade ihre Arbeit am Amboß beendet hatten. Auf einen Wink von Daidalos brachten sie die Flammen ganz zum Erlöschen. Minos schaute sich um, als sähe er alles zum erstenmal. Daidalos wußte sein unbewegtes Gesicht nicht zu deuten. Angst kroch in seinen Gedärmen hoch.
»Rede dich nicht auf
Weitere Kostenlose Bücher