Palast der blauen Delphine
schon an der Türe war. »Ist er auch dein Gefangener?«
Minos drehte sich langsam zu ihm um. »Ikaros war uns schon immer ein treuer Freund. Beinahe ein Sohn«, lächelte er vieldeutig. »Das wird auch in Zukunft so bleiben. Ich hoffe doch, daß er sich um seinen Vater keine Sorgen zu machen braucht. Das muß er doch nicht, oder?«
»Nein«, flüsterte Daidalos tonlos. »Das muß er nicht.«
Theseus blieb in seinem Versteck, bis beide gegangen waren. Langsam erhob er sich und schüttelte die eingeschlafenen Beine. Dann schlich er, immer noch vorsichtig, in die Schmiede. Dämmerlicht fiel durch die Fenster. Die Feuer waren gelöscht, alles lag an seinem Platz.
Beinahe zärtlich berührte er im Vorübergehen einen der bronzenen Meißel. Er lächelte, als er sich durch die Hintertür entfernte. Das Warten hatte sich gelohnt.
»Asterios!«
»Hatasu!«
Diesmal war alles anders. Sie waren allein, niemand in ihrer Nähe, auf den sie hätten Rücksicht nehmen müssen. Die anderen saßen beim Essen; später würden noch Musikantinnen aufspielen. Trotzdem waren beide verlegen, als sie im dunklen Garten nebeneinander standen.
Er spürte ihre Wärme, roch ihren Duft und hätte sie am liebsten in die Arme genommen. Aber er durfte es nicht. Hatasu war seine Halbschwester wie Ariadne und viel zu wertvoll, um billiger Ersatz zu sein.
»Gefahr liegt in der Luft«, sagte sie leise. »Über dem Hof. Der ganzen Insel. Etwas Wildes, Grausames, das mir die Kehle zuschnürt. Spürst du nichts? Du mußt es doch spüren!«
»Ja, ich spüre es«, sagte er. »Seitdem das Schiff aus Athenai angelegt hat.« Und der mit den kalten Augen von Bord gegangen ist, dachte er. Der Mann, der mich töten will. Der Mann, der mir Ariadne genommen hat.
»Und es wird stärker. Ich kann fühlen, daß es zunimmt.«
»Ja, es nimmt zu«, erwiderte Asterios. Und es wird weiter zunehmen, dachte er, bis wir uns eines Tages zum Kampf auf Leben und Tod gegenüberstehen: Theseus und ich. Die alte und die neue Zeit.
»Was wirst du tun?« Ihre Stimme klang weich.
»Ich möchte frei sein«, erwiderte Asterios zu seiner eigenen Überraschung. »Ungebunden. Ohne jede Verpflichtung. Dann würde ich …«
»Aber du bist es nicht«, unterbrach sie ihn sanft.
Hatasu sah ihn nicht an. Sie wußten auch so, was sie damit meinte.
»Nein, ich bin es nicht. Ganz und gar nicht.«
Nur einen Finger hätte er rühren müssen, so nah waren sie sich. Aber er blieb unbeweglich stehen.
Sie war es, die ihn berührte. Ganz sacht strich ihre Hand über seine Wange.
»Eines mußt du wissen«, sagte sie leise. »Aiakos ist mein Vater, der beste, den ich mir je hätte vorstellen können.«
Er sah sie überrascht an. Nickte.
»Er liebt mich, hat mich aufgezogen, ernährt und behütet. Aber nicht gezeugt. Meine Mutter war schon schwanger mit mir, als sie ihm begegnete.« Sie lächelte. »Er hat mich niemals spüren lassen, daß es einen gab, der vor ihm da war.«
»Und ich dachte die ganze Zeit …«, stieß Asterios hervor, »seitdem Aiakos mir verriet …« Er verhaspelte sich. »Warum hast du geschwiegen all die Jahre? Warum hast du mich in dem Glauben gelassen, du seist meine Schwester?«
»Ich bin es nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes«, erwiderte Hatasu. »Wenn du allerdings damit meinst, daß ich mich dir eng, sehr eng verbunden fühle – bin ich es vielleicht doch.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Aber das ist nicht alles.« Ihre Stimme klang heiser, als koste es sie Mühe, weiterzusprechen. »Und du weißt, daß es so ist. Lange schon. Ich wollte schweigen, bis du frei bist, Asterios. Ich werde weiterhin warten. Wie lange es auch immer dauert. Ich möchte, daß du das niemals vergißt.«
»Niemals«, flüsterte Asterios.
Seitdem Asterios an einem strahlenden Herbsttag in den Palast der blauen Delphine zurückgekehrt war, sehnte er sich danach, ihn so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Am liebsten wäre er sofort nach Süden geritten; aber Pasiphaë hatte ihm zu verstehen gegeben, daß sie ihn hier brauchte. Das Herbstopfer für die Göttin stand an, das traditionell im Hafengelände zelebriert wurde.
Asterios sollte es vollziehen, und er hatte gerne zugestimmt. Jede Gelegenheit war ihm recht, weder Ariadne noch Theseus zu begegnen, die nach wie vor ein Paar waren, auch wenn Pasiphaës Tochter in der Öffentlichkeit den attischen Prinzen kühl und gleichgültig behandelte.
»Was willst du?« fragte sie, als Asterios den Versuch
Weitere Kostenlose Bücher