Palast der blauen Delphine
zu zerstören! Es geht um den Dienst an Ihr, die alles geschaffen hat – nicht um die Befriedigung persönlicher Wünsche und Eitelkeiten!«
Asterios umklammerte die Armlehnen ihres Sessels mit beiden Händen. Ihr Gesicht war ihm so nah, daß er jede kleine Unregelmäßigkeit sehen konnte. Sie schien schlecht geschlafen zu haben. Ihre Augen wirkten müde und stumpf. »Die Weisen Frauen schauen nur zurück, nicht vorwärts. Sie wollen nicht wahrhaben, daß die Zeit nicht stillsteht. Und du willst es ebenfalls nicht. Erkennst du überhaupt, was um dich herum vorgeht Königin?« fragte er. »Siehst du die veränderten Zeichen – Hohepriesterin?«
»Wir sind also taub und blind, aber du weißt genau, was zu tun ist«, antwortete sie beißend. »Vermutlich wirst du es mir gleich mitteilen. Du solltest dich mit Minos zusammentun, mein Sohn, ihr würdet ein prächtiges Duo abgeben!«
»Mutter – bitte nicht so!« Er kauerte sich neben ihren Stuhl, berührte ihre Hand. Pasiphaë ließ es geschehen, aber ihr Blick blieb kalt. »Liebe, Achtung, aber auch Sorge zwingen mich, ganz offen dir gegenüber zu sein. Mich leitet kein Kalkül, und ich strebe nicht nach der Macht, glaube mir! Ich habe mir viele Gedanken gemacht«, sagte Asterios. »Lange schon. Und ich glaube, ich habe endlich eine Lösung gefunden, die uns allen helfen könnte. Willst du sie dir anhören?«
Ein unmerkliches Nicken.
»Gib mir die Möglichkeit, aktiv am Einweihungsweg mitzuwirken! Ich bin kein Lehrer wie Aiakos«, seine Stimme zitterte nur einen winzigen Augenblick, »ich bin auch keine Hohepriesterin, die den Kranichtanz beherrscht. Aber ich besitze die Kraft des Stiers. Ich bin meinem Schatten begegnet. Und ich kann den jungen Menschen, die Kretas Zukunft sind, dabei helfen, sehend zu werden: sich selbst zu erkennen.«
Pasiphaë berührte das Bienenamulett zwischen ihren Brüsten. Es sah aus, als suche sie nach einem Halt.
»Soll das heißen, du willst hinunter ins Labyrinth?« brachte sie schließlich hervor. »In den heiligen Leib der Göttin?«
»Ja«, erwiderte Asterios fest. »Das ist meine wahre Bestimmung – der Hüter des Labyrinths zu sein. Der, der das Heiligtum mit seinem Leben verteidigt.«
Für das Herbstritual war alles bereit. Die Leute von Amnyssos, Seeleute, Hafenarbeiter, Zimmermänner, Seilerinnen und Steinmetze, hatten sich in großer Anzahl am Kai versammelt. Ganz hinten erspähte Asterios den Parfumhändler in Begleitung seiner Gehilfen.
Iassos hatte die Warnungen über Strongyles drohendes Ende ernst genommen. Sofort nach seiner Rückkehr waren die ersten Nährbecken eingerichtet worden, und den langen Sommer über hatte er die Aufzucht der »Blutmundigen«, wie sie wegen ihrer roten Öffnung genannt wurden, beaufsichtigt. Purpurgewinnung war eine schwierige und langwierige Prozedur. Die Schnecken mußten zerstampft, in Salz eingelegt und mehrfach eingeköchelt werden. Erste Probefärbungen waren gerade erfolgt. Offensichtlich war Iassos mit den Ergebnissen zufrieden, denn er strahlte leutselig nach allen Seiten. Nicht alle erwiderten seinen Gruß. Selbst der mächtige Arm der Königin reichte nicht bis in jeden Winkel der Insel; der Händler, der stets seinen Vorteil zu nutzen wußte, hatte mehr als einen Neider.
Ein paar der Anwesenden schienen erstaunt, Asterios und keine der Priesterinnen vor dem Altar zu sehen; einige Frauen hatten sogar unzufrieden zu murren begonnen. Der Morgen war windig; die tiefblau gefärbten Leinentücher, die das Meer symbolisierten, flatterten über dem Altar. Erst als Asterios die Arme zum Gebet erhob, wurde es ringsherum still.
»Göttin des Meeres und der Winde, der Gezeiten und des nächtlichen Sternenhimmels! Große Mutter der Fischer, der Bootsbauer und aller, die Deine Wasser befahren, Du hast unsere Schiffe geschützt und uns Menschen vor Gefahren bewahrt. Wir danken Dir für Deine Gnade und Barmherzigkeit!«
Er hatte sich auf die vorgeschriebenen Worte beschränkt und keine Ergänzung vorgenommen. Ein junges Mädchen reichte ihm einen Korb mit winzigen Tonfiguren, die menschliche Köpfe und Rümpfe darstellten. Mit weitem Schwung warf er eine Handvoll davon ins Hafenbecken. »Nimm sie auf an unserer Stelle!« Anschließend ließ er zwei Bronzeamphoren, gefüllt mit geweihtem Öl, folgen. »Zur Salbung der Toten und der Lebenden!«
Den Schluß bildete die kostbarste Opfergabe: eine hölzerne Barke, kaum so groß wie eine Frauenhand, mit Blattgold überzogen. Ein Kranz bunter
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