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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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erwiderte er vorsichtig und hoffte, daß seine Schätzung richtig war.
    »Dreihundert!« Ihre Stimme bebte vor Empörung. »Jetzt, da der Winter kommt! Unmöglich! Wir können sie nicht aufnehmen.«
    Asterios glaubte im ersten Augenblick, nicht richtig gehört zu haben. Sie konnte nicht meinen, was sie sagte!
    »Das Gastrecht ist Kretas heiligstes Gesetz«, begann er langsam und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Wie streng und hart ihr Gesicht auf einmal war! »Keiner, der Schutz gesucht hat, wurde jemals zurückgewiesen. Immer haben wir geholfen, wenn es in unserer Macht stand. Das ist es, was die Große Mutter will. Und was ihr Frauen mich gelehrt habt.«
    »Die Göttin verlangt nicht von uns, daß wir uns selbst schaden«, sagte Jesa heftig. »Was sollen wir deiner Ansicht nach tun? Allen Betten in den Palästen der Königin geben und ihnen die Schlüssel zu unseren Magazinen in die Hand drücken, ohne uns darum zu kümmern, was aus den Kretern wird?«
    »Wieso denn?« rief Minos, der eben hereingekommen war. »Laß sie doch für uns arbeiten! In den Palästen gibt es genügend zu tun für Steinmetze, Zimmermänner und Bauarbeiter. Und ich bin sicher, daß Daidalos großen Bedarf an Schmieden hat. Um ihr Auskommen hier brauchen sie sich also keine Sorgen zu machen.«
    »Du scheinst die Situation zu verkennen«, erwiderte Pasiphaë gereizt. »Hunderte sind es, die wir aufnehmen sollen, nicht eine Handvoll Menschen! Auf lange Zeit oder gar auf Dauer, wenn ich es recht verstanden habe. Viele von ihnen sind nicht einmal Kreter. Und über die, die sich einmal entschlossen hatten, ihre Heimat zu verlassen, freut sich auch keiner. Keiner hatte sie zum Gehen gezwungen. Das war ganz und gar ihre eigene Entscheidung!«
    »Willst du sie dafür büßen lassen?« rief Minos dazwischen. »Geht dein Haß auf Strongyle so weit?«
    »Laß sie zumindest bleiben, bis die Gefahr vorüber ist«, bat Asterios und schöpfte neue Hoffnung. Sie mußte zu bewegen sein! Die Hohepriesterin würde die richtige Entscheidung treffen.
    »Es geht nicht um Almosen, sondern um neuen Lebensraum, den wir ihnen opfern müssen«, fuhr sie fort. »Um Häuser und Möbel. Um Grund und Boden.« Pasiphaë war aufgestanden und ging auf und ab. Ihre schweren Armreifen schlugen aneinander, während sie beim Sprechen die Hände bewegte. Sie trug eines ihrer Purpurgewänder, an Hals und Saum mit Goldfäden bestickt. Abrupt blieb sie vor Asterios stehen. »Und warum das alles? Nur weil meinen Sohn finstere Visionen quälen! Weil er selbstherrlich ganze Inseln entvölkert und Menschen wie Heuschrecken über Kreta hereinbrechen läßt. Du scheinst sehr überzeugt zu sein, von dem, was du siehst!«
    Auf einen solchen Angriff war er nicht gefaßt gewesen. Niemals zuvor hatte sie bislang in diesem Ton mit ihm gesprochen. Er spürte, wie Zorn in ihm hochstieg. Wie konnte sie nur so sprechen! Er war schließlich keine Marionette, die nach ihren Wünschen tanzte!
    »Die Göttin hat mir die Gabe verliehen«, sagte er impulsiv. »Sie ist es, die die Bilder schickt; ich bin nur der, der sie empfängt. Allerdings fühle ich mich verpflichtet, sie in Ihrem Sinn zu vermitteln und weiterzuleiten. Muß ich euch nicht warnen, vor dem, was Sie euch durch mich sagen will?«
    »Der Wille der Großen Mutter entscheidet über Leben und Tod«, entgegnete sie scharf. »Und sonst nichts! Uns steht nicht zu, über Ihren Schicksalsplan zu urteilen. Wenn Sie das Ende von Strongyle bestimmt, kann niemand etwas daran ändern. Nicht einmal wir.«
    »Heißt das, du willst alle sterben lassen?« Seine Stimme klang mühsam beherrscht. Niemals hatte er Pasiphaë mehr gehaßt.
    »Ihre Gesetze regieren uns, nicht mein Wille«, erwiderte sie. »Ich maße mir nicht an, sie immer verstehen zu wollen, noch tun das die Weisen Frauen dieser Insel. Wir wissen, daß uns allein Ihre Gnade das Leben geschenkt hat. Und du solltest dich ebenfalls hüten, dieser Gefahr der Selbstüberschätzung zu erliegen. Du bist Ihr Diener, Asterios, vergiß das nicht!«
    »Ihr wollt alle in den Tod schicken?« schrie Asterios. »Ohne den Versuch, zu helfen? Das könnt ihr nicht! Das dürft ihr nicht! Das ist nicht, was die Göttin will! Habt ihr ihre Gesichter gesehen? Die Kinder weinen hören? Ihr könnt euch nicht vorstellen, was geschehen wird, wenn der Berg erneut erwacht und alles mit Asche bedeckt. Aber ich habe es gesehen! Ich weiß es, glaubt mir! Es gibt kein Entkommen! Für keinen von ihnen, keinen

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