Palast der blauen Delphine
Platzes gegangen, dort, wo das Erdreich versuchte, sich zwischen die steinernen Platten zu drängen. Sie bückte sich, richtete sich wieder auf.
»Alles ist Erde«, sagte sie, während sie ihm ihre Handfläche entgegenhielt. Er sah feuchte, schwarze Brocken. »Wir Menschen sind nur ein Teil von ihr. Mit beiden Beinen betreten wir sie. Unsere Häuser sind auf ihr errichtet. Sie ist der Boden, auf dem das Getreide wächst. Eingewurzelt sind wir in sie mit Leib und Seele, und nur lebendig, solange sie uns nährt und trägt.«
Er nickte. Sie drückte in ihren Worten aus, was er fühlte. Die Liebe zur Erde war das Wichtigste, was sie die Mysten lehren konnten. Jeder von ihnen sollte dieses Geschenk auf seinem Einweihungsweg erhalten. Er dachte schon seit langem darüber nach, wie man es ihnen noch besser vermitteln konnte. Deshalb war er überrascht. Was wollte sie ihm damit sagen?
»Aber sie kann auch feindlich sein«, fuhr Pasiphaë fort. »Streng und unbarmherzig. Wenn ihre Schollen beben, die Berge einstürzen und die Täler sich mit Wasser füllen, sind wir rasch an den Grenzen unseres Verstehens angelangt.«
»Die Große Mutter ist die Herrin der Erde«, erwiderte er leise.
»Ja, Sie hat alles geschaffen«, sagte Pasiphaë in seltsamem Ton. »Gut, daß du dich wieder daran erinnerst.«
»Ich habe es nie vergessen«, erwiderte er fest.
»Das nicht«, sagte sie. »Aber anderes. Ich habe dich zu Ihrem Priester geweiht, als ersten Mann, dem diese Auszeichnung zuteil wurde. Ich erwarte von dir, daß du dich Ihrer würdig erweist. Du hast Gehorsam geschworen, Asterios. Jetzt erinnere ich dich daran.« Ihre Stimme klang gepreßt, als hielte sie etwas Unangenehmes zurück.
Was hatte das zu bedeuten?
»Wir haben dich den Winter über beobachtet«, fuhr sie fort. »Und was wir gesehen haben, gefällt uns nicht. Du benutzt die Kraft des Stiers nicht, sondern vergeudest sie im Widerstand gegen die Weisen Frauen. Und gegen mich.« Ihre Stimme blieb unverändert, aber er sah, wie sich die Falte zwischen den Brauen vertiefte. »Du hast den Boden verloren. Wir werden dir helfen, ihn wieder zu finden. Denn wir brauchen dich.« Sie packte seine Hand und drückte ihm die Krumen fest hinein. »Das ist dir abhanden gekommen: die Verbindung zur Erde. Aber du wirst sie wiederherstellen. Und stärker noch als je zuvor. Für dich selbst. Für Kreta. Und für viele Mysten, die diese Insel danach mehr lieben werden als ihr Leben.« Sie deutete zum Eingang des Labyrinths. »Siehst du die Schlangen an der Tür?«
»Ich sehe sie«, erwiderte Asterios.
»Sie bewachen die Schwelle, die Mysten einmal in ihrem Leben betreten. Der Leib der Großen Mutter verschlingt sie und gebiert sie neu. Dort, wo alles aufhört, wo Zeit und Raum keine Gültigkeit mehr haben, erfahren sie das Geheimnis ihrer selbst und werden zu ganzen Menschen. Das war seit jeher so. Das wird auch künftig so bleiben. Aber das ist nicht alles. Sieh mich an, Sohn!« Er gehorchte. Ihre Augen waren dunkel, die goldenen Flecken kaum zu sehen. »Du wirst der sein, der den weiblichen Schoß der Erde mit männlicher Energie erfüllt«, flüsterte sie. »Du wirst der heilige Stier sein, das letzte Mysterium, das im Herzen des Labyrinths auf den Eingeweihten wartet. Wir sind bereit, deine Forderung zu erfüllen. Nicht, weil du willst, sondern weil wir glauben, damit der Großen Mutter am besten zu dienen. Deswegen frage ich dich jetzt: Bist du wirklich bereit?«
»Ja, ich bin bereit«, erwiderte Asterios ohne zu zögern.
»Gut.« Jetzt lächelte sie. »Wir wollen nichts überstürzen. Wenn die Flüchtlinge die Insel verlassen haben, bringen wir dich hinunter. Du wirst einige Zeit brauchen, um dich an diese Aufgabe zu gewöhnen. Aber du wirst es schaffen. Dazu bist du geboren, deshalb trägst du das Mal an der Hüfte, das Mondzeichen des Stiers. Du bist der Hüter des Labyrinths.«
Asterios stand am Hafen, als die Schiffe nach Akrotiri ausliefen. Abgesehen von drei jungen Färbern, die bei Iassos geblieben waren, waren alle an Bord.
Die Beiboote legten bereits an. Es war leer am Kai und ungewöhnlich ruhig. Nur ein paar Schaulustige, die nichts Besseres zu tun hatten, trieben sich herum. Hüben wie drüben verspürte niemand Lust zu winken.
Eine Kymbe nach der anderen lichtete den Anker. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie hintereinander die schmale Hafeneinfahrt verlassen hatten. Westwind bauschte ihre Segel, und die Ruderer hatten kaum etwas zu tun. Wenn die Brise
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