Palast der blauen Delphine
einzigen!«
»Asterios!« sagte Mirtho halblaut, aber er reagierte nicht. Ihre Gesichter verrieten alles. Sie wollten ihn nicht verstehen. Sie wollten nicht hören, was er zu sagen hatte. Zu festgefahren waren sie, zu verbohrt, um anders zu entscheiden. Er hätte es wissen müssen!
Asterios trat ans Fenster und überlegte fieberhaft. Was sollte er tun? Sich vor ihren Augen ein Messer ins Herz stechen, damit sie endlich verstanden? Nie zuvor hatte er sich so fremd gefühlt. Er gehörte nicht zu ihnen. Er hatte nichts mit ihnen zu tun. Wie konnte er ihnen noch gehorchen? Am liebsten hätte er sie niemals wiedergesehen.
»Was soll nun weiter geschehen?« Minos sah die Frauen herausfordernd an. »Sie sind bei uns gelandet. Wollt ihr sie zurückschicken und damit gleich im stürmischen Herbstmeer umkommen lassen?«
»Minos!« zischte Pasiphaë. »Zügle dich!«
»In den ungeheizten Speichern können sie nicht lange bleiben«, fuhr er ungerührt fort. »Die Tage werden kürzer, die Nächte kälter. Es müssen neue Unterkünfte gefunden werden. Wo sollen sie deiner Ansicht nach wohnen?«
Pasiphaë hatte sich wieder auf ihrem Sessel niedergelassen und beriet sich halblaut mit den anderen Frauen. Dann nickte sie, und auch die anderen schienen ihr zuzustimmen. Sie schaute nicht einmal zu Asterios hinüber.
»Kreta kann sie nicht aufnehmen«, verkündete sie kategorisch. »Wenn sie nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen, müssen sie versuchen, anderswo unterzukommen. Das heißt natürlich nicht, daß wir sie in Wind und Sturm hinausjagen. Sie dürfen bleiben, bis das Meer wieder ruhiger ist und sie gefahrlos die Weiterreise antreten können.«
»Und bis dahin?« beharrte Minos. »Wirst du sie über die ganze Insel verteilen?«
»Auf keinen Fall! Ich will sie möglichst in meiner Nähe haben.«
»Schließlich sind sie das freie Leben in der Kolonie gewöhnt«, fügte Eudore mit leiser Häme hinzu. »Auf Kreta herrschen andere Gesetze. Es empfiehlt sich sicherlich, ein Auge auf sie zu haben.«
»Das denke ich auch.« Pasiphaë erhob sich. »Wir sollten kein Risiko eingehen und sie in Knossos und den umliegenden Dörfern unterbringen. Jede Familie wird verpflichtet, einige Flüchtlinge aufzunehmen.« Jetzt sah sie hinüber zu Asterios und runzelte die Brauen. Er zeigte ihr beharrlich seinen Rücken. Er konnte sie nicht ansehen. Nicht, nachdem sie diese engherzige Entscheidung getroffen hatte. »Ich denke, daß es keine großen Schwierigkeiten geben wird«, sagte sie nachdenklich. »Es ist ja schließlich nicht für lange.«
Kaum war der Winter vorbei, zogen die Leute von Strongyle ihre Kymben ins Wasser und bereiteten sie für die Abreise vor. Keiner von ihnen war traurig darüber, die Insel der Großen Mutter zu verlassen. Im Gegenteil: Sie konnten es kaum erwarten. Die Monate in Knossos waren schwierig gewesen. Zusammengepfercht mit ihren zwangsverpflichteten Gastgebern, war es zu Spannungen und Streitigkeiten gekommen. Kaum einer hatte ihnen Arbeit geben wollen, obwohl viele Spezialisten unter ihnen waren.
Ein paar Flüchtlinge hatten das Glück, für einfache Hilfsdienste gebraucht zu werden. Die große Mehrzahl aber blieb ohne Arbeit und damit abhängig von den Almosen, die Pasiphaë durch ihre Schreiberinnen täglich in Knossos verteilen ließ.
In der großen Stadt war es noch enger geworden als zuvor. Die Straßen quollen über von Menschen, in Tavernen und Bädern wurden die Plätze knapp. Es kam zu zahlreichen Zusammenstößen zwischen Fremden und Einheimischen, in deren Folge zwei Flüchtlinge schwer verletzt wurden. Ein anderer mußte eine Schlägerei, in die eine Handvoll Kreter verwickelt war, mit dem Tod büßen. Für kurze Zeit herrschten Bestürzung und Abscheu vor; der Täter, ein junger Färber aus Knossos, wurde streng bestraft. Dann aber kehrte der Alltag wieder ein, und alles war vergessen.
Dazu kam, daß die Nachrichten aus Strongyle unverändert blieben. Zwar war immer noch kein Delphin vor der Insel aufgetaucht. Aber es deutete auch nichts auf den Ausbruch hin, vor dem Asterios so eindringlich gewarnt hatte. Der große Berg war ruhig, abgesehen von ein paar dunklen Wolken, die um seinen Krater standen. Einmal war kurzes Grollen zu hören, das jedoch sofort wieder verebbte. Daran waren die Menschen auf Strongyle seit Generationen gewöhnt.
Die Priesterinnen aus Akrotiri, die Neuigkeiten aus der Heimat am schnellsten erfuhren, waren die ersten, die zum Aufbruch drängten. »Unsere Leute
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