Palast der blauen Delphine
Die Frauen versammelten sich auf den Anhöhen und in den heiligen Hainen ringsherum, wo sie mehrmals täglich zur Göttin beteten. Viele waren zu Fuß oder auf Eseln gekommen, andere mit Schiffen, die in Kommos oder Matala anlegten. Der Prozessionskorridor, der die Straße von Süden her mit dem Palast verband, war frisch ausgemalt. Blaue Tauben flogen durch eine blühende Landschaft. Der leuchtende Reigen zog sich bis in die Westhalle, von der aus die Gemächer der königlichen Familie zu erreichen waren. Durch kurze Flure und Verbindungstüren waren die Räume so geschickt hintereinander geschachtelt, daß selbst nachmittags frische Luft von den Bergen in den Räumen für Kühle sorgte.
Trotz der angenehmen Brise, die durch ihr Zimmer strich, fühlte Ariadne sich matt. Sie hatte die Mittagsstunden auf ihrem Bett verbracht und nach draußen gestarrt, wo die Schatten der Zypressen schmale, hohe Kegel warfen. Langsam stand sie auf und ging hinüber zum Fenster. Ihre Brüste spannten; jeden Morgen mußte sie sich erbrechen. Es gab keinen Zweifel mehr. Zum zweiten Mal war ihr Mondfluß ausgeblieben. Sie war wieder schwanger.
Energisch schob sie die Erinnerungen an Mirthos Kräuter beiseite und an die Schmerzen, die sie ihr damals bereitet hatten. Niemals würde sie diesen Tag vergessen, in dessen Verlauf sie nicht nur die Frucht ihres Leibes ausgestoßen hatte. Am gleichen Tag war auch Asterios beim Stiersprung schwer verletzt worden. Trotzig schaute sie hinüber zum Doppelhorn des blauen Berges, das sie an das Mondmal an seiner Hüfte erinnerte. Würde es denn niemals aufhören, dieses Wühlen in ihrem Innersten, wenn nur sein Name fiel oder sie ihm begegnete?
Mit einer heftigen Bewegung zog Ariadne das Tuch vor die Fensteröffnung. Sie hatte genug von diesen melancholischen Gedanken! Vor drei Jahren war Theseus mit den Athenern nach Kreta gekommen. Anfangs hatte sie ihm nur schöne Augen gemacht, um Asterios zu bestrafen. Aber mittlerweile hatten sich ihre Gefühle verändert. Jetzt lag eine glückliche Zukunft vor ihr. Theseus war der Vater des Kindes, das in ihr wuchs.
Sie wollte dieses Kind. Sie war fest entschlossen, es zur Welt zu bringen – ihren Sohn. Mein starker Wille und Theseus’ Ungestüm, dachte sie, was für eine überwältigende Mischung! Sie strich über ihren Bauch, der sich bald wölben würde. Dieses Kind würde der Ausweg sein, nach dem sie so lange gesucht hatte. Je eher sie die Insel verlassen konnte desto besser. Mittlerweile haßte sie Kreta beinahe ebensosehr, wie Theseus es tat; ein starkes Gefühl, das sie zusammenschmiedete. Ariadne hatte begonnen, die Dinge mehr und mehr mit seinen Augen zu sehen. Vieles, das ihr seit jeher vertraut und richtig erschienen war, bekam aus seinem Blickwinkel einen merkwürdigen, sogar häßlichen Beigeschmack.
»Frauen sind nicht zum Herrschen gemacht«, sagte er, wenn er sie in seine Arme zog. Nach ihren ersten leidenschaftlichen Begegnungen, bei denen Ariadne die Fordernde gewesen war, waren die Rollen nun vertauscht. Theseus gab sich keine Mühe mit einem langen Vorspiel, sondern spreizte ihre Schenkel und drang in sie ein, manchmal fast gewaltsam. Die Grenzen zwischen Spiel und Ernst waren fließend; Ariadne protestierte lahm und wand sich unter seinem groben Griff. Ergebnislos. Er war der Stärkere. Beide wußten, daß diese besitzergreifende Art sie erregte. Ariadne genoß es, sich ihm auszuliefern; sie liebte es, wenn er sich als gnadenloser Herrscher aufspielte, dem sie sich zu unterwerfen hatte. »Frauen haben viel zu lange bei euch das Sagen gehabt. Eure Männer? Weichlinge und Memmen! Keine richtigen Kerle, die sich nehmen, was ihnen gefällt«, schimpfte Theseus. »Wie lächerlich sie aussehen, mit ihren Armreifen und Schärpen, ihren Röcken, in denen sie zur Großen Mutter winseln! Manchmal kommt es mir vor, als gäbe es nur Weiber auf eurer Insel!«
»Und bei euch in Athenai? Wer hat da zu bestimmen?« fragte Ariadne immer wieder, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
Er lachte rauh. »Das wirst du schon sehen, meine Prinzessin!« Dann befahl er ihr, auf die Knie zu gehen und nahm sie von hinten.
Immer noch trafen sie sich heimlich, wenngleich es Ariadne inzwischen gleichgültig war, ob die anderen es wußten. Manchmal wünschte sie es sich sogar und mußte ihre ganze Beherrschung aufbieten, um es ihrer Mutter nicht einfach ins Gesicht zu schreien. Ein Barbar und eine ihrer Töchter – selbst wenn es nur Ariadne war, die sie am
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