Palast der blauen Delphine
anders«, sagte sie vage, um doch noch einzulenken. »Weil jeder sich vom anderen unterscheidet.«
Er sah sie so fassungslos an, daß sie stockte.
Was sie erlebt hatte, ließ sich nicht in Worte fassen. Was sollte sie ihm schon sagen über die Schwärze ringsumher und die Stille? Über den unebenen Boden, auf dem sich ihre nackten Füße vorsichtig nach unten getastet hatten? Über ihren Schatten, dem sie im Herzen des Heiligtums begegnet war, und über die tiefe Erleichterung, als sie den Weg hinaus auf einmal ganz einfach gefunden hatte? Niemals würde sie über dieses Sterben und Wiedergeborenwerden sprechen. Nicht einmal mit dem Mann, dessen Kind sie trug. Bittend sah sie ihn an. »Es sind nur Bilder, Gefühle und Erinnerungen, Theseus. Nichts von dem, was du wahrscheinlich erwartest.« Eine merkwürdige Scheu hielt sie vom Weitersprechen ab. »Außerdem ist es verboten, darüber zu reden. Hast du in Zakros keinen Eid abgelegt?«
Sie sah noch immer sein verstohlenes Lächeln vor sich. Er hatte abrupt das Thema gewechselt und war wieder unruhig geworden. Bald darauf war er gegangen. Aber Ariadne war sicher, daß er wieder darauf zurückkommen würde. Dann würde sie ihm sagen, daß sie schwanger war. Und mehr als das. Sie mußte nicht einmal ihren Schwur verletzen, indem sie über ihre Erfahrungen sprach. Es genügte schon, ihm zu verraten, wer ihn im Herzen des Labyrinths erwartete: Asterios, der Priester mit der Stiermaske.
Zwei Stunden vor Sonnenuntergang ritt Daidalos los. Er ließ Matala hinter sich, wo er sich in einem Gasthof eingemietet hatte. Es machte ihm nichts aus, auf Stroh zu schlafen und sich im Badehaus nur mit kaltem Wasser begießen zu können. Jeder Schritt, der ihn von Minos’ lähmender Allgegenwart befreite, machte ihn bereits glücklich.
Ohne Rücksicht auf den Stand seiner Arbeiten hatte Pasiphaës Gatte ihn gezwungen, das Erzschmelzen in Knossos zu beenden und mit dem Hof nach Phaistos zu ziehen. Hier mußte er unter weitaus primitiveren Bedingungen arbeiten. Dazu kam, daß er die Leute aus dem Süden haßte. Sie waren geschwätzig, lachten zuviel und scherten sich noch weniger um seine Anweisungen. Mit Wehmut dachte er an seine Zeit in Zakros zurück, den Südflügel, die Schmiede, sein kleines Reich, das nun schon lange verwaist war.
Manchmal sah er im Traum das braune Haus wieder, in dem Patane ihm so unendlich gut getan hatte. Dann trat er wieder über die Schwelle, stieg sicher wie ein Schlafwandler die schmale Treppe in das obere Stockwerk hinauf und öffnete die Türe zu ihrem Zimmer, bereits zitternd vor Erregung. Da waren sie wieder, ihre massigen Schenkel, die birnenförmigen Brüste, der Bauch, in dessen Wülsten er sich am liebsten vergraben hätte wie ein frierendes Kätzchen. Niemals sah er in diesen tröstlichen Träumen ihr Gesicht, die hohe Stirn, die wulstigen Lippen, die Nase mit dem breiten Rücken und den herrlichen Nüstern. Nur die schlanke schwarze Peitsche erschien ihm, mit deren Hilfe sie ihm eine so unnachgiebige Herrin gewesen war. Er lechzte nach ihrem dunklen Fleisch, das er kein einziges Mal hatte berühren dürfen. Nach ihrer rauhen Stimme, ihren Befehlen. Nach den präzise gesetzten Striemen auf Hintern und Rücken, die tagelang als köstliche Zeichen seiner Schuld gebrannt hatten. Er vermißte sie – bei Zeus, wie er sie vermißte!
Hinter der Hügelkette sah er die Bucht liegen, in der die Heilige Hochzeit gefeiert werden würde. Am liebsten hätte er sein Pferd gewendet und wäre nach Matala zurückgeritten. Aber er war hier, um die Vorrichtungen zu überprüfen. Er begnügte sich damit, verächtlich auf die Erde zu spucken. Was erwartete ihn schon in dem staubigen Hafenort? Nichts, wofür es sich zurückzukehren wirklich lohnte.
Er dachte an die Kleine von gestern. Jung war sie gewesen, mit dem weichen, blassen Fleisch einer Rothaarigen. Ausladende Hüften, schwere Brüste. Als er ihre Bauernhände gesehen hatte, war einen Augenblick schon eine winzige Hoffnung in ihm aufgestiegen. Kein Ersatz für Patane, den konnte es ohnehin nicht geben. Aber vielleicht eine kleine Erlösung von seinen inneren Qualen.
Aber sie entpuppte sich als unbrauchbar. Er konnte sie gerade noch daran hindern, sich breitbeinig auf das Bett zu legen. Als er versuchte, ihr seine Wünsche klarzumachen, hatte sie ihn erschreckt angestarrt. »Das mache ich nicht.« Er konnte ihren Ekel spüren. »Das nicht. Ich bin zum Lieben bestimmt, nicht zum Strafen.« Wie eine
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