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Palast der blauen Delphine

Titel: Palast der blauen Delphine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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sich mittlerweile an das Dunkel und die Einsamkeit gewöhnt. Jetzt liebte er die Stunden in der Tiefe, wo er über die vielfältigen Eigenschaften der Erde nachdenken konnte: die Härte, die in der Dürre zu Staub zerkrümelte; die Weichheit, die wie üppiger Pelz auf dem Gestein sproß, um Leben und Wachstum hervorzubringen. Er hatte gelernt, zu warten, geduldig, aufnahmebereit, wie Erde.
    Wenn er das Keuchen eines Mysten hörte, der sich die verschlungenen Gänge entlangtastete, hörte er auf zu denken. Die suchenden Schritte verloren sich in blinden Passagen oder in Tunneln, die gegen eine Wand führten. Meist blieb es lange still. Dann kehrte ein schwaches Echo wieder. Langsam kamen sie zurück, wurden lauter und lauter. Dann verschmolz Asterios mit den Wänden und wurde eins mit dem felsigen Grund. Dieses vollständige Aufgehen, das er nicht bewirken, sondern nur geschehen lassen konnte, löste eine ungeheuere Konzentration aus. Er konnte sie körperlich spüren, als glühenden Energieball, der sich in seiner Leibmitte zusammenzog. Dann wußte er, der andere, der bangen Herzens dem letzten der Geheimnisse zusteuerte, empfing sie ebenfalls.
    Das war die uralte Kraft des Stiers, die durch ihn strömte: die des Schwarzen, der Tod und Zerstörung bedeutet; die des Weißen, der das Leben zeugt. Wenn Asterios sie so stark fühlte, war der Myste an dem Ziel angelangt, um dessentwillen er diese lange Reise in die Unterwelt angetreten hatte. Bereit, seinen Schatten zu sehen, die dunklen Seiten, die im Licht des Tages verleugnet werden. In diesem Moment absoluter Wahrheit begriff er, daß erst ihr Annehmen ihn zum ganzen, vollständigen Menschen werden ließ.
    Während Asterios durch den Park hinüber zu den Häusern der Mysten ging, spürte er, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Es lag nicht an der Hitze, die das Gras zu seinen Füßen verdörrt hatte. Es war Theseus, vor dessen Anblick ihm graute. Er würde der Begegnung dennoch nicht ausweichen. Er war der Priester der Göttin; es war seine Aufgabe, die Mysten auf die Prozession vorzubereiten, und Theseus war einer von ihnen.
    Vor der großen Versammlungshalle traf er auf Balios und Paion, zwei seiner Helfer. Sie gehörten zu der kleinen Schar junger Männer, die ihm seit zwei Jahren zur Hand gingen. Es war nicht leicht gewesen, diese Unterstützung bei Pasiphaë schließlich durchzusetzen.
    »Wieso brauchst du Männer?« hatte sie mißtrauisch gefragt. »Such dir lieber ein paar der künftigen Priesterinnen aus. Die bringen bereits die richtige Einstellung mit.«
    Aber allein konnte er nicht ankämpfen gegen eine weibliche Übermacht, die ihm in ihrer Weigerung allem Neuen gegenüber immer erdrückender vorkam. In diesem Punkt war er mit Minos und Aiakos einer Meinung. Mit einem wichtigen Unterschied allerdings – er dürstete nach männlichem Beistand. Sie nach der Macht.
    »Nur durch Ausbildung und Erziehung können wir etwas erreichen«, hatte er beharrt. Er hatte zum zweiten Mal nicht nachgegeben. Er wußte, Kreta würde nur überleben, wenn altes Wissen rechtzeitig an möglichst viele weitergegeben würde. »Gewähr mir diese Unterstützung, und ich verspreche dir, daß wir die Zahl der Einweihungen steigern können.«
    Es hatte seiner ganzen Überzeugungskraft bedurft. Aber der Erfolg gab ihm recht. Mehr und mehr junge Menschen traten den Weg der Mysten an.
    Sie traten ein. Die Mysten saßen im Kreis auf dem Boden und sahen ihn erwartungsvoll an. Nur Theseus vermied wie üblich seinen Blick.
    »Ich grüße euch, Schwestern und Brüder der Einen Mutter«, begann er. Aus den Knaben und Mädchen waren inzwischen junge Männer und Frauen geworden. Sie trugen kretische Schurze und stellten ihre nackten Oberkörper zur Schau; Gürtel und geschnürte Bänder betonten anmutige weibliche Rundungen. Die selbstbewußten Mysten hatten keine Ähnlichkeit mehr mit den verängstigten, schäbig gekleideten Kindern, die damals in Amnyssos an Land gegangen waren. »Heute nacht begehen wir das höchste aller Feste«, fuhr er fort. »Die Heilige Hochzeit, die die Vermählung der Mondkuh mit dem Stier aus dem Meer feiert. Sein Samen ist der Frühlingsregen, der die schlafende Erde weckt.«
    Er hatte den richtigen Ton nicht getroffen. Vor ihm biß sich Prokritos auf die Lippen, und zwei Mädchen begannen zu kichern. Wie konnte er das Geheimnis des Lebens diesen Heranwachsenden vermitteln, die gerade damit beschäftigt waren, das verwirrende Eigenleben ihrer Körper zu

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