Palast der blauen Delphine
geöffnet. Dann gehst du zu deiner Herde, versorgst sie und wartest dort, bis die Steuerkommission bei dir angelangt ist. Keine Angst, mein Junge«, rief er, als er Asterios’ skeptischen Blick bemerkte. »Einer der Stallburschen wird dich führen. Nach der Zählung werden die Tiere ausgesucht, die für die königliche Herde bestimmt sind. Hast du dein Siegel zur Hand?«
»Ja«, sagte Asterios.
»Dann laß dich bei dem Beamten dort drüben registrieren und sag ihm, daß du mit mir gehst.«
Asterios folgte seinen Anweisungen und beobachtete, wie der Staatsdiener seine Feder anspitzte und mit Sepiasaft Namen und Herkunftsort aufschrieb. Anschließend wurde er einem Stallburschen zugeteilt, dessen pickelige Wangen vor Eifer glühten.
Auf dem Platz vor den Stallungen standen die Menschen dichtgedrängt. Die Dunstschleier über dem Land hatten sich verzogen; im Osten war der Himmel grau und durchscheinend geworden. Als die Sonne sich wie ein glutroter Ball über den Horizont erhob, erstarb mit einem Schlag alles Gemurmel.
Langsam öffneten sich die Doppelflügel des Zedernportals und gaben den Blick auf drei Gestalten frei, die die Hände zum Gebet erhoben hatten. Die Frau in der Mitte trug ein lichtblaues Gewand; weißes Haar war über einer breiten Stirn zur Krone geflochten. Sie hatte das derbe Gesicht einer Bäuerin und helle, schmale Augen. Zu ihrer Rechten erkannte Asterios den königlichen Stallmeister, der ihn am Vortag so barsch empfangen hatte. Zu ihrer Linken stand, ebenfalls in Blau, eine blonde, junge Frau.
»Wer sind sie?« flüsterte Asterios.
»Jesa, die Oberschreiberin der Königin«, gab Baupios leise zur Antwort. »Die Junge mit der strengen Miene ist ihre Stellvertreterin Eudore; der Mann ist der Stallmeister, Peripos. Paß auf, es geht gleich los!«
Das stille Gebet war beendet. In weiter Geste hob die Oberschreiberin ihren linken Arm der Sonne entgegen, ließ den rechten folgen und beschrieb den heiligen Kreis. Dann trat sie mit ihren Begleitern zur Seite und gab das Tor frei.
Wie durch eine geöffnete Schleuse drängten die Stallburschen und die Hirten hinein. Asterios, vom Strom der Leiber mitgerissen, sah sich zunächst von seinem kleinen Führer getrennt.
»Halt, so warte doch, hier bin ich«, hörte er plötzlich eine helle Stimme neben sich. »Hier herüber, wir müssen ganz nach außen!«
Asterios folgte dem Jungen, der schließlich vor einem kleineren Pferch haltmachte. Voll Freude schlug sein Hund an, sprang ungestüm an ihm hoch, leckte ihm die Hände. Seine Herde, irritiert von dem Getümmel und dem Lärm, schob sich ihm entgegen. Besänftigend streichelte er den Kopf seiner Leitziege und machte sich ans Melken. Die Tiere wurden ruhiger, und auch Asterios versuchte, seiner inneren Unruhe Herr zu werden. Aber es gelang ihm nicht.
»Was wird aus der Milch?« rief er zu Baupios hinüber.
»Bring sie zu den großen Tonkrügen dort am Weg, die später in die Käserei der Königin geliefert werden. Aber stärke dich zuvor mit einem tüchtigen Schluck, denn jetzt heißt es geduldig warten!«
Asterios gab sich alle Mühe, wach zu bleiben. Aber die kurze Nachtruhe und die zunehmende Wärme machten ihn immer schläfriger. Bald schon waren ihm die Augen zugefallen, und alles um ihn herum drang nur noch wie durch einen dichten Schleier in sein Bewußtsein.
Es ging auf Mittag zu, als Asterios plötzlich hochschreckte. Sein Kopf brummte, seine Kehle war trocken. Er hatte tatsächlich geschlafen. Er rieb sich die Augen und blinzelte verwirrt nach oben.
Vor ihm standen Jesa und der Stallmeister, gefolgt von Eudore und einigen Gehilfinnen. Kein höfliches Grußwort wollte ihm über die Lippen kommen. Er fühlte sich wie ein ertapptes Kind.
»Erhebe dich, Hirte«, blaffte ihn der Stallmeister an. »Wir sind hier nicht auf freiem Feld, wo du ungestört deine Decken ausbreiten kannst!«
»Steh auf, Junge, und antworte«, sagte Jesa freundlicher. »Du hast Gregeris Herde zur Zählung gebracht?«
»Ja, ich bin dieses Jahr für ihn gekommen«, sagte er höflich, während er sich eilig erhob.
»Laß sehen, was du uns mitgebracht hast! Vierundzwanzig Tiere – wie im Vorjahr – und alle in bester Verfassung.« Die Oberschreiberin studierte die Rolle. »Du scheinst ein Hirte zu sein, der für seine Herde sorgt«, fügte sie hinzu.
Asterios errötete über das unverdiente Lob, das eher dem Alten zugestanden hätte. »Ich bemühe mich«, murmelte er.
»Kommen wir zum Wesentlichen!«
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