Palast der blauen Delphine
Wasserbeutel. »Jetzt stärkst du dich erst einmal. Komm, setzen wir uns in den Schatten!«
Gehorsam trank Asterios in kleinen Schlucken und kaute ein paar Bissen. Allmählich beruhigte sich sein Organismus. In seinem Kopf aber jagten sich die Gedanken, und er machte sich die bittersten Vorwürfe wegen seiner Feigheit. Wie sollte er jemals wieder Merope unter die Augen treten?
In diesem Augenblick ging ein Raunen durch die Menge. Asterios sah, daß man den Sessel der Königin jetzt direkt vor den Altar getragen hatte.
Die Königin saß bewegungslos, den Blick nach Westen gerichtet. Sie hatte den Mantel abgelegt und trug ein enggeschnürtes rotes Mieder, dessen Ausschnitt ihre Brüste freigab. Einem Töpfchen entnahm sie Balsam und tupfte ihn sorgfältig auf Herz, Kehlkopf, Stirn und Scheitel. Hinter ihr schwenkten Mädchen Räuchergefäße, denen helle Schwaden entquollen. Auf dem ganzen Platz war kein Laut mehr zu hören.
Pasiphaë vollzog mit ausgestreckten Armen den heiligen Kreis. Dann kniete Jesa vor ihr nieder.
»Du gewährst Werden und Vergehen, Du schenkst Anfang und Ende. Du allein bist die Herrin über Leben und Tod«, hallten die Worte der Großen Anrufung weit über den Platz. »Dank sei dir, Große Mutter, für die Gesundheit der Menschen, für das Gedeihen der Tiere, für die Früchte des Feldes. Dir opfern wir aus frohem Herzen, was Du uns gegeben hast.«
Aus einem schwarzen Steinrhython, täuschend einem Stierkopf nachgebildet, versprengte sie einige Tropfen geweihten Öls in alle Himmelsrichtungen. Dann hob sie den Kernos empor, der in zwölf leicht vertiefte Schüsselchen unterteilt war.
»Wir opfern Dir, was Du uns in Deiner Güte geschenkt hast: Wurzeln, Samen, Nüsse, Früchte, Gemüse, Wein, Öl, Honig, Brot, Milch, Käse und Wolle. Nimm unser Opfer wohlgefällig an!«
Behutsam stellte sie ihn vor Pasiphaë nieder und verneigte sich tief.
Asterios wagte kaum noch zu atmen. Die Leere in ihm war einer peinigenden Sehnsucht gewichen. Fast schmerzhaft fühlte er sich zu ihr hingezogen. Ihr, die er kannte seit jeher. Die ihm in so vielerlei Gestalten in der alten Höhle begegnet war.
Ja, Sie war die Große Göttin, die allesbeherrschende Mutter, Herrscherin über Leben und Tod. Die, die war von Anbeginn. Die, die ewig währte.
Langsam erhob sich Jesa und schloß die Türen des Schreins auf. Sie nahm die Doppelaxt heraus und kehrte zum Altar zurück. Dort wartete bereits der Stallmeister. Peripos trug auf seinen Armen einen jungen Hammel mit gebundenen Läufen. Ein rotes Band umspannte kreuzweise den Tierkörper. Vorsichtig legte er das Lamm auf den Altar und kniete anschließend vor Pasiphaë nieder.
Die Trommeln begannen zu schlagen, ein schneller, fordernder Rhythmus. Wieder sprach die Oberschreiberin das Gebet.
»Mit der Labrys vergießen wir das Blut des Opferlamms. Herrscherin der Oberen und der Unteren Welt, nimm unser Opfer wohlgefällig an!«
Langsam hob Jesa mit beiden Händen die Mondaxt und hielt sie über ihren Kopf. Lauter sangen die Trommeln, und die Spannung auf dem Platz stieg ins Unerträgliche. Pasiphaë nickte.
Dann sauste die Axt herab.
Mit einem Schlag durchtrennte sie die Halsschlagader des Opferlamms. Helles Blut tropfte vom Altartisch in die Schale aus geschliffenem Onyx. Auf Pasiphaës nackten Brüsten waren Blutspritzer zu sehen.
Ein einziger, wilder Schrei vereinte die Männerstimmen mit den hellen der Frauen.
In der darauffolgenden Stille erhob sich die Königin, aufrecht wie der Weltenbaum, und breitete ihre Arme weit aus, als wolle sie den menschengefüllten Platz umfangen. Dann ließ sie sich wieder in ihren Purpurmantel hüllen und nahm in ihrer Sänfte Platz. Zwei Männer trugen sie zum Palast.
Inzwischen versuchte Jesa, sich Gehör zu verschaffen. »Hört, ihr Frauen und Männer! Die Königin lädt euch alle ein zu dem großen Fest, das bei Anbruch der Nacht auf der Agora beginnt. Küche und Kellerei des Palastes werden für euer Wohl sorgen – trinkt und eßt nach Herzenslust!«
Ein leichter Wind vom Meer trug einen salzigen Geruch in die festlich gestimmte Stadt. Aus vielen Fenstern hingen Webereien, und Blütengirlanden schmückten die Haustüren. Männer und Frauen, Hirten, Bäuerinnen und Handwerker strömten zur Agora. Dort hatte man in doppelter Reihe hohe Fackelmasten errichtet.
Lämmer wurden über offenen Feuern gebraten, Fische auf glühenden Rosten gegrillt. Es gab Platten mit grünen und weißen Bohnen und Töpfchen mit kleinen
Weitere Kostenlose Bücher