Palast der blauen Delphine
eine blaugekleidete Gestalt aus dem Dunkel des Türrahmens. Zu seiner Überraschung erkannte Asterios die weißhaarige Frau wieder, der er damals nach seiner ersten Nacht mit Ariadne am Strand begegnet war. Ohne ein Zeichen des Erkennens erwiderte sie seinen Blick.
»Du bist Asterios?« fragte sie knapp.
Er nickte langsam. Auf einmal war er sich ganz sicher. Sie war auch während der Zählung in Pasiphaës Nähe gewesen. Wer war sie? Was hatte sie hier am Hof zu suchen? Was hatte sie damals wirklich von ihm gewollt? Vergebens versuchte er, sich an die Einzelheiten ihres morgendlichen Gesprächs zu erinnern. Hatte sie ihn nicht nach Ariadne gefragt? Und war sie nicht plötzlich aufgebrochen, als er behauptet hatte, das Mädchen nicht zu kennen?
Stumm starrte er sie an.
»Mein Name ist Mirtho«, fuhr sie fort, und ihm war, als spielte ein Lächeln um ihren Mund. »Höchste Zeit, daß du da bist! Pasiphaë hat schon zweimal nach dir gefragt. Komm, ich bringe dich zu ihr!«
Sie führte ihn zunächst durch eine große Empfangshalle. Mehrere Männer waren dabei, von der Wand mit Hämmern und kleinen Meißeln die oberste Farbschicht herunterzuklopfen. Nur Reste eines offensichtlich abgesprungenen Gemäldes waren noch zu sehen, die Hinterläufe eines riesigen schwarzen Stiers.
Dann bog sie in einen schmalen Korridor ein, bis sie in eine zweite große Halle kamen, von der aus sich mehrere Türen in weitere Räume öffneten. Niemand begegnete ihnen auf ihrem Weg. Nur am Ende des Flurs glaubte Asterios eine rasche Bewegung gesehen zu haben, ein helles, flatterndes Gewand, das aber sofort wieder verschwunden war.
Seite an Seite traten sie in den gepflasterten westlichen Innenhof. Die Alabastertreppe, die zu den Rängen führte, hatte man mit bunten Teppichen belegt. Das grelle Tageslicht traf Asterios so unvermutet, daß er wie geblendet stehenbleiben mußte. Unter den Baldachinen war mit einem Schlag alles Gelächter und Geplauder verstummt.
Einige Dutzend Männer und Frauen in eleganter Kleidung standen auf den Stufen. Ketten von erlesenster Goldschmiedearbeit schimmerten an Hals und Armen, an vielen Ohrläppchen glänzten Silber- oder Goldplättchen. Mit ihren sorgfältig rasierten Gesichtern, den gewellten Haaren und engen, buntgewirkten Taillenbändern wirkten selbst die Männer sehr feminin. Die Frauen trugen plissierte Kleider, die tief ausgeschnitten und ebenfalls enggegürtet waren. Einige fächerten sich mit Blattfächern Kühlung zu; andere hatten sich mit Schleiern vor der Sonne geschützt.
Vor seinen Augen verschwamm alles zu einem einzigen Farbenspiel. Die Stille dröhnte in seinen Ohren, und er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden. Er blinzelte heftig.
Dann entdeckte er Pasiphaë. In ihrem Purpurgewand glich sie einer kostbaren Blüte. Silbriger Glanz lag auf ihren halbgeschlossenen Lidern. Ihr Gesicht war wächsern vor Anspannung. Zu ihrer Rechten stand in lässiger Haltung ein hochgewachsener Mann mit graumeliertem Haar. Im Kontrast zu dem Safrangelb seines Umhangs wirkte seine Haut beinahe olivfarben. Die kühngekrümmte Nase ließ ihn unnahbar erscheinen, ein Eindruck, den der schmale Mund verstärkte. Ein stolzes, gefährliches Gesicht, das man niemals vergaß.
»Minos«, flüsterte die alte Frau neben ihm, ohne die Lippen zu bewegen. »Gemahl der Königin.«
Neben ihm beugte sich ein magerer Mann eifrig nach vorn. Schwarzes Haar lag wie dunkles Gefieder um seinen länglichen Schädel. Tiefe Magenfalten; rote, feuchte Lippen. Mit wieselflinken Augen, blank wie geschliffener Obsidian, starrte er Asterios neugierig entgegen. Sein Körper schien unter dem üppigen Faltenwurf fast zu verschwinden.
»Daidalos«, wisperte Mirtho. »Athener und Baumeister des Königs. Schau nach links. Dort siehst du Pasiphaës Töchter und Söhne.«
Asterios erkannte die jungen Frauen und das rothaarige Mädchen wieder, die er bereits bei der Zählung gesehen hatte. Auch heute waren sie weißgekleidet. Weiß war auch die Farbe der Leinenschurze der drei jungen Männer, die eine Stufe tiefer standen. Mit ihren ölschimmernden Oberkörpern glichen sie eher Ringern als Prinzen. Der blonde Schopf des Größten leuchtete in der Sonne wie ein goldener Helm.
Und dann entdeckte er die Frau aus Iassos’ Haus wieder. Hatasu stand, fein und zart wie eine Elfenbeinstatuette, in einem golddurchwirkten Kleid neben einem kräftigen Mann, den er für ihren Vater hielt. Asterios konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.
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