Palast der blauen Delphine
Aber sie sah unverwandt zu ihm herüber.
Die Stille lastete wie ein schweres Gewicht auf dem sonnendurchglühten Hof. Dann, endlich, ergriff Pasiphaë das Wort.
»Tritt näher, Asterios!« befahl sie, und er konnte spüren, wie erregt sie war. »Dank schulde ich Dir, Große Mutter, daß Du mir diesen Augenblick geschenkt hast! Heute erfahre ich endlich die Genugtuung für das schwere Unrecht, das mir Minos vor vielen Jahren angetan hat.«
Der Mann neben ihr machte eine Geste, als wolle er sie zum Schweigen bringen. Dann aber ließ er seine Hand wieder sinken. Pasiphaë senkte ihre Stimme zu scharfem Flüstern, das das weite Rund des Theaterhofes deutlich wiedergab.
»Vor mehr als sechzehn Jahren mußte ich meine Kinder verlassen. Wie eine Verbrecherin hast du mich gejagt, mein Leben und das des Ungeborenen bedroht. Denn ich trug das Kind der Heiligen Hochzeit, den Sohn des Weißen Stiers.«
Ihre Augen sprühten Blitze.
»Damals hast du nicht nur das überlieferte Recht der Königin mit Füßen getreten, die als Gebärende selbst zur Großen Mutter wird! Du hast auch versucht, mit Hilfe deiner Helfershelfer die Macht auf Kreta an dich zu reißen! Alles war scheinbar perfekt eingefädelt: die Flotte nahezu fertig gebaut, Handelsverträge mit anderen Völkern bereits vorbereitet. Und dennoch seid ihr unterlegen, ihr Männer, die ihr verändern wolltet, was niemals verändert werden darf! Denn die Göttin, die die Leibesfrucht der Frauen entbindet und alle Geschicke leitet, hat nicht nur eure Rebellion verhindert. Sie hat mir heute zurückgegeben, was du mir damals grausam entreißen wolltest!«
Links und rechts wichen die Menschen zurück, als sie die Treppe hinabstieg. Erst vor Asterios blieb sie stehen. »Zeig ihnen das Mal!« forderte sie ihn auf.
Im ersten Augenblick meinte er, nicht recht gehört zu haben. Ihre Augen aber sagten ihm, daß er sich nicht getäuscht hatte.
»Das Mondmal, Asterios!« wiederholte sie ungeduldig und berührte, als er immer noch zögerte, sein Taillenband, als wolle sie selbst den Gürtel lösen.
Die Menschen rundum schienen den Atem anzuhalten. Wie unter Zwang entblößte er sich. Ein Raunen ging durch die Menge, und manche Gesichter wurden bleich. Einige traten ganz nach vorn, als könnten sie ihren Augen nicht trauen.
»Seht, ihr Kreter, seht, meine Töchter und Söhne: Dies ist mein geliebter Sohn Asterios, gezeugt aus heiligem Samen beim Fest, das Himmel und Erde miteinander vermählt. Das Mal an seiner Hüfte belegt es: Er ist der Geweissagte, von dem einst das Orakel gesprochen hat!«
Leises, zaghaftes Klatschen setzte ein. Als schließlich laut applaudiert wurde, bückte sich Asterios mit zitternden Knien nach seinem Schurz und schlang ihn wieder um die Hüften. Noch meinte er die neugierigen Blicke auf seiner nackten Haut zu spüren, und er senkte seinen Kopf.
Pasiphaë nahm ihn bei der Hand und führte ihn wie ein Kind nach oben zu ihrem Platz. Unmittelbar vor Minos blieb sie stehen und küßte Asterios auf den Mund. Dabei ließ sie ihren Mann nicht aus den Augen. Zwar blieb sein Gesicht regungslos, aber seine Lippen waren zu einem Strich geworden. Er hob die Hand, und einen Augenblick lang sah es so aus, als würde er die Frau mit einem Schlag niederstrecken. Statt dessen trat er auf Asterios zu, der sich inzwischen verlegen aus der mütterlichen Umklammerung gelöst hatte.
Minos legte seine Hand schwer auf Asterios Schulter, eine Geste, die eher bedrohlich als freundschaftlich wirkte, und sah ihm direkt in die Augen.
»Als Sohn der Königin bist du am Hof zu Phaistos willkommen!« Seine Stimme klang mühsam beherrscht. »Möge die Göttin dich schützen!«
»Ich danke dir«, antwortete Asterios befangen. Ein Feind, dachte er, als er den Haß in den Augen seines Gegenübers sah. Ein kluger, sehr gefährlicher Feind.
Die Königin drängte sich zwischen sie. »Bemühe dich nicht! Er ist mein Sohn und nicht auf deine Gnade angewiesen«, sagte sie in scharfem Ton und zog Asterios beiseite. »Du mußt deine Schwestern und Brüder kennenlernen! Das ist Akakallis, meine älteste Tochter, die ihr erstes Kind erwartet, und ihr blonder Zwillingsbruder Deukalion. Das sind Xenodike und deine jüngste Schwester Phaidra, unser kleiner Rotschopf. Hier deine Brüder Katreus und Glaukos. Du gehörst zu einer großen Familie.«
Die neuen Geschwister starrten ihn neugierig an. Asterios suchte verlegen nach Worten.
»Ich glaube, ich muß mich erst an so viele neue Geschwister
Weitere Kostenlose Bücher