Palast der blauen Delphine
eine kleine Rauferei unter den Jungen schlichten.«
»Eine gute Gelegenheit für mich, meinen Gedanken nachzuhängen«, lächelte Minos. »Komm, laß uns gehen.«
Durch ein Portal mit zwei Halbsäulen gelangten sie in den Nordtrakt, wo die Privatgemächer der königlichen Familie lagen. Dort hatten seit ihrem letzten Besuch die Bauarbeiten beachtliche Fortschritte gemacht. Die Lehmziegelmauern waren hochgezogen, der Mörtel längst getrocknet. Decken und Wände wurden mit Gipsstuck und leichten Flächenreliefs überzogen. Kniehohe Sokkel aus Speckstein unterstrichen die Horizontale. In Pasiphaës künftigen Zimmern waren Handwerker dabei, die Alabasterplatten mit einer rötlichen Quarzsandmischung zu verfugen.
Minos winkte Aiakos in den Nebenraum und zog ihn vor an die Tür, die Spiral- und Rosenornamente umrahmten. Sie ging hinaus auf eine windgeschützte Terrasse, von der aus man direkt auf die bewaldeten Hügelketten schauen konnte.
»Das ist die Einheit von Natur und Bauwerk«, sagte er schwärmerisch und zeigte hinaus auf das helle Grün der Olivenbäume, das sich im Farbspiel drinnen wiederholte. »Dieser Baustil gehört zu den Traditionen, auf die wir stolz sein können! Der Palast atmet wie ein lebendiger Körper und sperrt das Draußen nicht aus, sondern läßt Licht und Luft hinein!«
Aiakos war beeindruckt. »Pasiphaë wird glücklich über die neuen Gemächer sein.«
»Das ist mir im Augenblick herzlich gleichgültig«, knurrte Minos.
»Was soll nun mit dem Jungen geschehen?« fragte Aiakos, ohne auf seinen gereizten Tonfall einzugehen. Seine Stimme klang dringlich. »Habt ihr euch schon darüber verständigt?«
»Natürlich nicht! Ich habe sie seit Tagen kaum gesehen.«
»Ich kann deinen Groll gut verstehen, Minos«, lenkte Aiakos ein. »Jahrelang glaubtest du, dieses Kind sei tot. Aber kannst du nicht versuchen, der unerwarteten Wendung positive Züge abzugewinnen?«
»Soll ich mich vielleicht darüber freuen, daß sie mich vor dem ganzen Hof zum Narren gemacht hat?«
»Immerhin ist nun bewiesen, daß du dieses Kind weder selbst getötet hast noch hast töten lassen«, erwiderte Aiakos ruhig. Er wußte, welch heiklen Punkt er damit anschnitt.
»Und weiter? Ich weiß nicht, worauf du hinaus willst.«
»Denk an unseren alten Traum, Minos, und mach etwas aus der veränderten Situation! Er ist ein Mann, verstehst du? Vielleicht ein bißchen ungehobelt für unseren Geschmack, aber intelligent und gutgebaut. Hast du seine Augen gesehen? Mir gefällt sein Blick!«
»Soll ich mich bei Pasiphaë für diesen zusätzlichen Sohn auch noch bedanken?«
»Er ist nun mal der Sohn der Königin«, fuhr Aiakos unbeirrt fort. Sein Atem ging schneller, aber er hoffte, der Freund würde es nicht bemerken. »Und der geweissagte Lilienprinz. Zumindest sind die Weisen Frauen davon überzeugt. Folglich muß er so schnell wie möglich zu den Mysten. Dann sehen wir weiter.«
»Doch nicht etwa in die Gruppe der jungen Athener?« Minos schien der Gedanke wenig zu gefallen.
Zweimal schon waren seine Schiffe nach Athenai ausgelaufen, um vierzehn Knaben und Mädchen nach Kreta zu bringen. Während eines neunjährigen Zyklus wurden sie zu Eingeweihten der Großen Mutter. Waren sie Geiseln, die das attische Wohlverhalten gegenüber Kreta garantierten oder Privilegierte, die an den Segnungen einer alten Kultur teilhaben durften? Die Meinungen darüber hätten in Athenai oder auf Kreta unterschiedlicher nicht sein können. Minos aber, der den Tod seines ältesten Sohnes Androgeus auf attischem Boden niemals vergeben hatte, bestand auf dem kostbarsten Tribut, den die Stadt der Männer der Insel der Frauen bringen konnte: vierzehn Mädchen und Jungen aus den besten Familien.
»Die Priesterinnen würden wohl kaum zulassen, daß wir ihn mit gewöhnlichen Jugendlichen zusammenstecken«, sagte Aiakos. Ihm war heiß geworden. Das Thema machte nicht nur Minos zu schaffen.
»Aber ihr Zyklus hat doch schon lange begonnen!«
»Wenn Asterios hält, was der Anschein verspricht, läßt sich seine Ausbildung unter Umständen wesentlich beschleunigen. Merope hat ihn schließlich aufgezogen – vergiß das nicht!«
Er ist mehr einer der Unseren, als du ahnst, dachte Aiakos. Mehr, als du je erfahren darfst.
Minos fuhr herum, als hätte er einen Schlag erhalten. »Mirtho und ihresgleichen sind schon mehr als genug – jetzt muß auch noch Merope wie ein Fluch aus der Vergangenheit auftauchen! Dabei geht es um die Zukunft Kretas, auch
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