Palast der blauen Delphine
jemand sich an einen Winter erinnern, der ähnlich stürmisch begonnen hatte. Bis in die Abendstunden hinein waren die Menschen beim Holzsammeln. Es war ungewöhnlich kalt; auf dem Doppelhorn des Nida schimmerte bereits der erste Schnee.
Asterios starrte auf den leeren Tanzplatz und versuchte, den Abend des Kranichtanzes heraufzubeschwören. Damals hatte ein doppelter Fackelring den Choros erhellt, und die Mysten hatten gemeinsam gewartet. Diesmal waren die hölzernen Masten leer; niemand würde ihm beistehen. Er war der erste und einzige, auf den schon heute das große Geheimnis wartete. Die anderen hatten noch lange Zeit, sich darauf vorzubereiten.
Ihm gegenüber befand sich der Eingang zum Labyrinth. Asterios konnte ihn im Dunkel der Nacht nur erahnen, aber er erinnerte sich deutlich an die Schlangen auf dem verwitterten Holz.
Seine Glieder fühlten sich schwer an, und durch das lange Fasten war sein Geruchssinn bis zur Grenze des Unerträglichen geschärft. Obwohl er sich gründlich gereinigt hatte, kam ihm sein eigener Geruch schal vor.
Schwarz wie das Schweigen war das Gewand der alten Frau neben ihm; schwarz wie der feine Schleier, der Meropes Gesicht und Haar bedeckte. Wie die Botin des Todes, die die Barke ruft, dachte Asterios. Die schwarze Hüterin der Schwelle, die den Lebensfaden in ihren Schoß zurückrollen läßt. Ihre Augen gleichen zwei tiefen Seen, die mich teilnahmslos betrachten, weil sie alles unendlich oft erlebt hat.
Ihn fröstelte. Er hatte Angst.
»Komm näher, Asterios!« forderte ihn Merope auf. »Laß dich betrachten, bevor du die Schwelle überschreitest!«
Sie betrachtete seinen Schädel, den man vor wenigen Stunden blau bemalt hatte, seine Ohrmuscheln, die purpurrot gefärbt waren. Sie überzeugte sich, daß er das Gewand des Mysten angelegt hatte, das in einem Sud aus Galläpfeln tiefschwarz gefärbt worden war, und die breite, scharlachrote Schärpe trug.
Sie nickte zufrieden. Er war bereit. Das Ritual konnte beginnen.
Merope salbte seine Stirn und schwenkte ein kleines Räuchergefäß um seinen Kopf. Dann überreichte sie ihm einen Lederbeutel.
»Darin findest du Wasserkrüge und eine Decke. Du kehrst nun zurück in den Schoß der Großen Mutter, wo du stirbst und wiedergeboren wirst. Dein Körper ist durch Fasten gereinigt, die Tage der Enthaltsamkeit haben deine Sinne geschärft. Der Kranichtanz hat dich gelehrt, zurück zum Ausgang zu finden. Bevor ich dir die Augen verbinde und den Trank reiche, möchte ich dir noch etwas sagen. Sieh mir in die Augen, mein Sohn!«
Asterios gehorchte.
»Jedes Wort wird überflüssig, wenn du achtsam ins Zentrum aller Dinge gehst. Laß dich nicht schrecken von den Ängsten, die in dir lauern! Denn du bist stärker als sie! Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann bete zur Großen Mutter um Mut, Geduld und Klarheit. Danke Ihr, daß Sie dich in Ihren Schoß aufnimmt!«
»Und du? Werde ich dich wiedersehen?«
Unter dem Schleier glaubte er ein kleines Lächeln zu entdecken. »Ich habe dir schon einmal versprochen, daß ich immer bei dir sein werde«, antwortete sie sanft.
Sie brachte ihn zum Eingang und verneigte sich leicht gegen Osten, um die Göttin zu ehren, die jeden Morgen den Tag neu gebiert. Dann entriegelte sie das hölzerne Doppelportal. Beklommen starrte Asterios in die Finsternis.
Merope reichte ihm ein Trinkgefäß mit schmalem Schnabel, das über und über mit tönernen Brustwarzen bedeckt war. In mehreren Zügen leerte er den Krug. Die Flüssigkeit war kühl und hatte neben dem Geschmack nach Gerste und frischer Minze etwas Unbekanntes, Bitteres. Leichte Pelzigkeit begann sich schon bald in Gaumen und Rachen auszubreiten.
Merope verband ihm die Augen. An ihrem Arm tastete er sich die neun steilen Stufen hinab. Modrige Luft schlug ihnen entgegen, und Asterios verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt. Sein Herz pochte wild.
»Bleib nicht stehen!« sagte Merope. »Das Blechon, das du eben getrunken hast, entfaltet innerhalb einer Stunde seine volle Wirkung.« In dem unterirdischen Gang klang ihre Stimme hohl und fremd. »Dann erst nimmst du das Tuch von den Augen und gehst weiter. Vergiß dabei das Wichtigste nicht, mein Sohn: Das Labyrinth, das dich in seinen dunklen Leib aufgenommen hat, um dich zu verschlingen und um dir neues Leben zu schenken, ist der Schlüssel zur Unsterblichkeit …«
Stille. Wie ein glattes, schweres Gewicht lastete sie auf ihm. Seine Ohren schienen sich bis ins Unendliche auszudehnen.
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