Palast der blauen Delphine
silbriges Zittern unter dem bleichen Licht des Mondes. Sie versinken in der Schwärze der Nacht, die alles verschlingt.
Erneut teilen sich die Wogen des Meeres. Diesmal ist das Fell des Bullen, der das Land betritt, schwarz und sein Schnauben unheilvoll. Feuer und Verwüstung führt er unter seinen Hufen, die bereit sind, alles zu zermalmen, was sich ihnen in den Weg stellt. Er ist ein Ungeheuer, eine Mißgeburt mit Tierkopf und Menschenleib, für alle Zeiten verbannt in das Labyrinth, um im Leib der Erde seine ahnungslosen Opfer zu erwarten.
Langsam wendet der Schwarze Stier den Schädel, den ein geschwungenes Hörnerpaar krönt. Unverwandt stiert er ihm entgegen, mit trüben, blutunterlaufenen Augen.
Gellend schrie er auf und berührte sein Gesicht.
Obwohl es unbedeckt war, konnte er die tönerne Stiermaske fühlen, die dicht auf seiner Haut saß und es ihm unmöglich machte, tief und gleichmäßig zu atmen.
Er war der Stier!
Er war der Hüter des Labyrinths!
Er mußte hier, im Zentrum, den Heros mit den zornigen Augen erwarten.
Er würde sterben. Und die Insel untergehen. Denn die Zeit des Stiers ging zu Ende.
FEUER
Als Asterios den Hügel von Phaistos erreichte, war es bereits Abend. Müde schwang er sich vom Pferd, das ihn über die verschneiten Bergpässe und durch die Täler nach Süden getragen hatte. Nach dem rauhen Winteranfang war die Witterung in den letzten Tagen überraschend mild geworden und hatte ihn unterwegs mit Regenschauern und Schneestürmen verschont.
Über der weiten Ebene, die grüne Wintersaat trug, ging die Sonne unter. Im Osten ragte das Doppelhorn des blauen Berges in den Himmel, und Asterios spürte, wie seine Unruhe sich allmählich legte und Frieden in ihm einkehrte.
Er atmete tief durch und sah hinüber zu den kahlen Bergwipfeln. Er war rechtzeitig nach Hause zurückgekehrt. In zwei Tagen würde der Scheiterhaufen entfacht werden, um die längste Nacht des Jahres zu feiern. Doch die Sonnwendfeier war nur ein Vorwand für seine Reise nach Phaistos gewesen; Ariadnes Hilferuf hatte ihn hergeführt.
Nicht mehr lange, und er würde endlich wieder bei ihr sein! Den ganzen Ritt über hatte er so intensiv an sie gedacht, daß er manchmal das Gefühl hatte, sie reite neben ihm. Nachdem ihm Iassos das Medaillon übergeben hatte, wäre er am liebsten sofort aufgebrochen. Aber natürlich hatte er zuerst das Labyrinth bezwingen und so die dritte Phase des Einweihungsweges abschließen müssen.
Es hatte Asterios Tage gekostet, wieder zu sich zu kommen, und auch jetzt war die Zeit der quälenden Fragen noch lange nicht vorbei. Er mußte mit Pasiphaë sprechen; nicht mit der Frau, die ihn geboren hatte, sondern mit der Hohepriesterin, die der Göttin diente. Was er im Labyrinth gesehen hatte, betraf ihn nicht allein, sondern bedrohte das Heiligtum, ja, die ganze Insel. Er durfte die Weisen Frauen nicht im unklaren lassen; wer, wenn nicht sie, konnte eine Erklärung finden?
Aber zuvor mußte er noch etwas anderes klären. Was war mit Ariadne geschehen?
Er klopfte an das hölzerne Eingangstor.
Ein untersetzter Palastwächter öffnete ihm unwirsch. Als er Asterios erkannte, veränderte sich seine Haltung, und er begrüßte ihn respektvoll, wenngleich sein Aufzug ihn zu irritieren schien. Asterios sah von dem schlammbespritzten Umhang bis zu seinen kaum weniger schmutzigen Stiefeln hinab und merkte erst jetzt, daß er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.
Er wurde zum Westflügel geführt. Zu seiner Überraschung war es Mirtho, die ihn in der Eingangshalle empfing. Sie schien auf seine Ankunft gewartet zu haben und erhob sich von einer Bank, auf der sie es sich mit einer Decke bequem gemacht hatte.
»Willkommen in Phaistos!« begrüßte sie ihn und musterte ihn eindringlich. Er hatte sich verändert, seitdem sie ihn zuletzt gesehen hatte. Seine Züge erschienen ihr markanter, sein Gesicht zeigte die Spuren des langen Fastens und des gehetzten Ritts. Er hielt ihrem prüfenden Blick stand.
In seinen Augen fand sie, wonach sie gesucht hatte. In ihnen spiegelte sich die Kraft des Stiers. Er war in der Lage, mit männlicher Stärke den Machtansprüchen Minos’ zu trotzen und mit weiblicher Ausdauer zu bewahren und zu schützen, was die Frauen von Anbeginn auf Kreta errichtet hatten. Stolz und Zuversicht erfüllten Mirtho, und sie spürte, wie große Erleichterung sie durchflutete.
Sie hatten sich nicht geirrt: Er würde der erste Priester der Großen Mutter werden, den einst
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