Palast der blauen Delphine
auf, daß du dein Ziel nicht verfehlst«, sagte Katreus bedächtig. »Aus dem Labyrinth gelangst du nämlich nur mit klarem Verstand und geschärften Sinnen wieder heraus. Mit Fliegen und Träumen kommst du im dunklen Schoß der Erde nicht weit.«
»Danke, daß du mich daran erinnert hast.« Asterios stand auf. »Höchste Zeit, zu den anderen Mysten zurückzukehren.«
Er beeilte sich, die Zecher so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Trotz seiner unerträglichen Spannung suchte er sich vorsichtshalber eine kleine Nische zwischen zwei Pfeilern, zog das Bündel aus seinem Gürtel und öffnete es. In seiner Hand schimmerte das heilige Doppelhorn mit der Sonnenscheibe, das Schmuckstück, das ihm einst Merope anvertraut, bevor er es später um Ariadnes Hals gelegt hatte.
Er wußte, was die Nachricht bedeutete. Sie hatten es sich geschworen, in der letzten Nacht, bevor er nach Knossos aufbrechen mußte. Komm nach Phaistos, hatte ihm die Liebste hiermit bestellt. Komm zu mir, so schnell du kannst!
Aiakos war nach Knossos geritten, eigens um mit ihm zu sprechen, wie Asterios zu seiner Überraschung herausfand. Der Lehrer begrüßte die Mysten und sah ihnen eine Zeitlang zu, wie sie den Kranichtanz übten. Dann wartete er, bis Merope in ihr Haus gegangen war, und nahm Asterios zur Seite. Aiakos hatte sich nicht einmal umgezogen. Er schien es wirklich eilig zu haben.
»In ein paar Tagen gehst du ins Labyrinth«, sagte er. »Ich möchte dir etwas für diesen Weg mitgeben. Sozusagen von Mann zu Mann.«
Asterios sah ihn überrascht an. Aiakos hatte ihn in ein Zimmer geführt, wo sie ungestört waren. Solche Sonderbehandlungen waren ganz untypisch für ihn.
»Die Priesterinnen machen großes Aufhebens um diesen dritten Erkenntnisschritt, die Reise in die Dunkelheit, und sie behaupten, es sei für Männer schwieriger, sich im Leib der Erde zurechtzufinden. Ich will nicht sagen, daß sie sich darin irren, jedoch vergessen sie oft das Wichtigste dabei.«
»Und das wäre?«
»Du begegnest dort unten der großen Spirale, du erlebst am eigenen Körper Tod und Wiedergeburt – allerdings nur, wenn du dabei nicht vergißt, wer du bist: ein junger Mann mit Mut und Kraft! Laß dich nicht schrecken von den Ängsten, die in dir lauern! Vertrau deinem Verstand und deiner Intuition. Und vertrau deinen geschulten Sinnen. Sie werden dich sicher ans Ziel bringen! Sei nicht hochmütig, aber laß dich auch nicht einschüchtern. Wir sind alle ins Labyrinth gegangen.« Er machte eine kleine Pause und zwinkerte ihm zu. »Und alle wieder herausgekommen. Das ist es, was ich dir sagen wollte.«
»Hat Minos dich geschickt?«
»Er nimmt großen Anteil an deiner Entwicklung. Er hat mich gebeten, ein besonderes Auge auf dich zu haben.«
»Aber warum? Ich bin der Bastard der Königin! Ich weiß, daß er mich haßt!«
»Du bist ein Mann, Asterios«, erwiderte Aiakos vielsagend. »Und auf uns Männer warten besondere Aufgaben. Aber davon werde ich dir mehr erzählen, wenn du das Labyrinth hinter dir hast. Wir bauen auf dich. Enttäusch uns nicht!« Er berührte seinen Arm. »Und da ist noch etwas, was du wissen solltest«, sagte er leise. »Etwas, das dich ganz persönlich betrifft.« Seine Stimme bebte. »Und mich. Etwas, das du niemals verraten darfst. Keinem Menschen. Schwöre!«
Asterios starrte ihn verblüfft an. »Was meinst du?« wollte er fragen, aber er bekam keinen Ton heraus. Schweigend erhob er die Hand zum Schwur.
»Ich bin dein Vater. Ich habe dich gezeugt.« Aiakos Stimme war rauh, aber er schaute seinen Sohn unverwandt an.
»Du?« flüsterte Asterios ungläubig. »Du warst es!«
»Ja, ich«, erwiderte der Mann. »Ich wurde damals ausgesucht, um die Heilige Hochzeit zu vollziehen. Eine Weigerung kam nicht in Frage. Ich mußte den Weisen Frauen gehorchen. Es liegt an dir, Asterios, ob Männer auf Kreta auch künftig keine Wahl haben.«
»Aber dann ist Hatasu ja meine Schwester!«
»Ihr habt beide einen Vater, der euch liebt«, sagte Aiakos. »Und der alles für euch tun würde. Bitte, vergiß das niemals!«
Dunkel lag die Insel in purpurner See. Seit Tagen hatte sich kein Schiff aufs Meer hinausgewagt. Ein frostiger Nordwind beutelte die Olivenbäume auf den Hügeln um den großen Palast. Am Himmel stand die bleiche Mondsichel. Schwarze Wolken, die bald zerfetzten Segeln, bald seltsamen Tiergestalten glichen, verbargen sie, um sie kurz freizugeben und abermals zu verhüllen. Selbst unter den Alten konnte kaum
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