Palast der blauen Delphine
Gehüllt in vollkommenes Dunkel, umgeben von Stille, fühlte er, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, wie Angst sein Gedärm zusammenzog. Ein unwiderstehlicher Drang zu urinieren überkam ihn, aber er unterdrückte den Trieb. Er mußte weiter, das Zentrum erreichen, bevor die Macht des Blechon ihn ganz erfaßt hatte.
Asterios atmete tief und gleichmäßig, wie es ihn Hatasu gelehrt hatte, und legte beide Hände auf sein Sonnengeflecht. Er spürte, wie Geist und Körper sich langsam beruhigten.
Der Boden, den seine bloßen Füße berührten, war kühl und steinig, aber einigermaßen eben. Wie ein Schlafwandler bewegte er sich vorwärts und blieb dabei mit der ausgestreckten Linken in ständigem Kontakt mit der Felswand, die ihm als das einzig Sichere in seinem unterirdischen Gefängnis erschien.
Ein Vergessener im Grab, dachte er, über dem sich die steinerne Platte geschlossen hatte. Sein Atem ging flach; noch immer lauerte die Furcht in ihm. Unzählige Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Und wenn es kein Zentrum gab? Wenn das Labyrinth ein Gefängnis war, allein dazu erdacht, die Willenskraft des Eingekerkerten zu messen? Er schrie auf, und das Echo warf seinen Schrei verzerrt zurück.
Plötzlich erinnerte er sich, was Aiakos über den Gebrauch der Sinne gesagt hatte. Er konnte nichts sehen. Aber er hörte. Und er fühlte.
Er wurde wieder ruhig. Lauschte in die Stille. Er war ganz allein.
Um der neu keimenden Verzweiflung Einhalt zu gebieten, berührte er seinen Körper und fuhr mit der Hand in seine Gewandtasche. Er stutzte, als er die Spitzen des gebogenen Doppelhorns spürte. Das Amulett! Der Anhänger, den Ariadne ihm geschickt hatte! Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, ihn eingesteckt zu haben. Aber wie sonst sollte er dorthin gekommen sein?
Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er begann zu taumeln, zu schwanken. Das Amulett entglitt seinen Fingern und fiel auf den felsigen Boden.
Er wußte nicht mehr, wo die Wand war. Links? Oben? Unten? Die Wirkung des Blechon hatte eingesetzt. Langsam löste er die Binde von seinen Augen und nahm in sich die Dunkelheit auf. Selbst mit weit geöffneten Pupillen vermochte er sie nicht zu durchdringen. Steifbeinig stand er da und spürte, wie ein Vibrieren ihn erfaßte, das stärker wurde und sich in allen Gliedmaßen ausbreitete, bis seine Augäpfel zu rollen und seine Backenmuskeln unkontrolliert zu zucken begannen.
Schaum trat vor seinen Mund, und er bäumte sich auf. Ihm war es, als sei sein Leib in einem eisigen Panzer gefangen, der ihn zusammenpreßte und zu zerquetschen drohte. Der unerträgliche Druck steigerte sich mit jedem Atemzug.
Erschöpft gab Asterios jeden Widerstand auf und überließ sich der qualvollen Umklammerung. Ein letztes würgendes Seufzen – da gab der feste Panzer plötzlich nach und fiel von ihm ab.
Kein fester Leib mehr, nur noch glänzende Wirbel in ihm und überall um ihn herum; leuchtende Bahnen, die sich zu Spiralnebeln zusammenzogen und wieder ausdehnten, durchpulst von einer zukkenden Nabelschnur. Ihm war, als ob er die Windungen eines riesenhaften Gehirns betrete, das sich nach ein paar Atemzügen zur sternenübersäten Unendlichkeit des Kosmos weitete.
Sein Körper, den er wie von weit entfernt betrachten konnte, begann mit dem ewigen Tanz von Tod und Wiedergeburt. Er tanzte, bis Schweiß ihn bedeckte, sein Gewand lose um ihn flog und seine Arme sich himmelwärts streckten. Dann hielt er erschöpft inne.
Seine Fußsohlen begannen zu prickeln, zu brennen. Und dann fühlte er sie: die starke Kraft der Erde, die durch ihn flutete. Weiter trieb sie ihn, voran, dem Ziel zu. Wie im Traum erschloß sich ihm nun der gewundene Pfad des Labyrinths, und er betrat ihn furchtlos. Er spürte, wie ihn die siebenfache Spirale in weiter, sanfter Pendelbewegung von innen nach außen und wieder nach innen trug.
Dann war er im Zentrum angelangt. Ein hoher, leicht gewölbter Raum, aus dem Felsen gehauen, dessen Decke er selbst mit ausgestreckten Fingerspitzen nicht berühren konnte. Langsam ließ er sich auf den Boden gleiten und berührte die Stelle zwischen seinen Brauen.
Blaues Licht umfing ihn.
Als Weißer Stier steigt er aus dem Meer. In einer schwülen Augustnacht feiert die Mondkönigin Heilige Hochzeit mit ihm in einer schmalen Bucht. Er ist es, nach dem sie sich verzehrt. Er ist es, der sie besteigt, um den ewigen Bund zwischen dem göttlichen Tier und der Insel zu besiegeln.
Sein Brüllen und ihr hoher Schrei,
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