Palast der blauen Delphine
das Orakel der Insel geweissagt hatte. Mit eigenen Händen würden die Priesterinnen die Pfauenkrone auf sein Haupt setzen, so wie es das Wandbild im Palast der blauen Delphine zeigte.
Mirtho lächelte. Sein Weg ist beinahe vollendet, dachte sie und reichte ihm einen Becher mit gewürztem Wein als Willkommensgruß. Sein vierter und letzter Schritt des Einweihungsweges stand bevor – Feuer, das seine Grenzen sprengen und ihn härten würde wie edles Metall.
Während er trank, spürte sie seine Unruhe. Er schien zu zögern, stellte schließlich aber doch die Frage, die ihm auf der Seele brannte.
»Wo finde ich Ariadne?«
»Du kommst zu spät«, antwortete sie schroffer als beabsichtigt.
Er wurde blaß, und seine Hand am Gürtel krampfte sich zusammen. »Was ist geschehen? Was ist mit ihr?«
»Ihr fehlt nichts«, beruhigte ihn Mirtho. »Aber sie hat den Palast verlassen. Vorgestern ist sie an Bord des Schiffes gegangen, das den Rest der Flotte in den Winterhafen nach Amnyssos lotsen wird. Ursprünglich sollten die Schiffe in den Werften von Kommos überwintern. Die milde Witterung der letzten Tage hat Minos jedoch veranlaßt, seine Befehle zu ändern.«
Asterios starrte sie ungläubig an. »Soll das heißen, daß sie unterwegs nach Knossos ist, während ich mir fast die Knochen gebrochen habe, um auf dem schnellsten Weg hierherzukommen? Sag mir, wer sie weggeschickt hat!«
Er begann, ruhelos im Raum auf- und abzulaufen.
Wie schön er in seinem Zorn war, so jung und unschuldig in seinem Aufbegehren! Mirtho wußte plötzlich, daß er Ariadne nie aufgeben würde. Sie sah es an der Art, wie er sein Kinn hob und die Brauen zusammenzog. Der Sprung über den Stier, der Kranichtanz und selbst das Labyrinth, das ihm seinen künftigen Weg offenbart hatte, konnten nichts ausrichten gegen seine Liebe zu ihr.
Sie seufzte. Sie konnte ihm die Wahrheit nicht vorenthalten, auch wenn sie ihn schmerzen würde. »Die Anordnung kam von Minos. Und Paneb, dein Lehrer, hat sie begleitet. Sie hatte keine Wahl«, fügte sie sanfter hinzu. »Ariadne war verzweifelt, weil sie auf dich warten wollte. Aber sie mußte gehorchen.«
»Er will uns auseinanderbringen! Aber das wird ihm nicht gelingen. Ich liebe sie! Ich werde Ariadne ewig lieben!« Er blitzte sie herausfordernd an.
»Genug, Asterios!« sagte Mirtho mit lauter Stimme. »Du bist schon zu weit gegangen, um dich in Selbstmitleid zu verlieren. Natürlich kannst du dich wie ein gekränktes Kind benehmen, das andere für sein Leid verantwortlich macht. Aber du kannst dich auch als Eingeweihter zeigen, der auf dem Pfad der Erkenntnis vorwärtsschreitet.«
Im Schein der Fackeln sah er, wie ein Lächeln um ihren Mund spielte. Plötzlich sah sie nicht mehr so streng aus. »Und diesen Eingeweihten erwarte ich übermorgen bei Anbruch der Abenddämmerung auf dem Berg«, fuhr sie fort. »Wenn der Mond der Sonnwende sich am Himmel zeigt, will ich gemeinsam mit ihm das Feuerritual zelebrieren.«
Schmale, steinige Ziegenpfade, den fernen Sternen entgegen. Unter seinen Stiefeln löste sich Geröll. Am Nachthimmel leuchtete der Vollmond, und der Wind hatte sich gelegt. Die weite Ebene unter ihm ruhte wie in tiefem, friedvollen Schlaf.
In der Mitte des Quellplatzes, der unter schroff aufragenden Felsen lag, war der Scheiterhaufen aufgetürmt. Über trockenem Reisig hatten sie Scheite aus neun verschiedenen Hölzern geschichtet; obenauf lag ein Büschel Kräuter.
Neben ihm, ganz schwarz, stand die alte Frau mit einer lodernden Fackel in der linken Hand. Ihm schien, als sei sie eins mit der Nacht, dem Berg, dem Feuer.
»Du, Mutter, hast mir Wissen gewährt über das, was ist«, trug weit ihre Stimme durch die Stille. »Du ließest mich das Wirken der Elemente erkennen, das Wachsen und Vergehen der Tage, den Wechsel der Jahreszeiten und den Stand der Sterne. Ich kenne die Macht der Geister, die Vielfalt der Pflanzen und die Kräfte der Wurzeln. Das Verborgene ist mir vertraut, und ich habe gesehen, was offen im Licht des Tages liegt. Denn Du, Große Mutter, hast mich in Kleinem und Großem unterwiesen. In Deinem heiligen Namen trotze ich nun der Nacht und sage dem Winter den Kampf an.«
Sie streckte die Linke mit der brennenden Fackel in den dunklen Himmel und schloß die Augen. Lange blieb sie bewegungslos stehen. Dann öffnete sie sie wieder und sah ihn an.
Asterios tauchte ein in ihren Blick. In seiner Tiefe sah er die Kraft und die Macht der Mütter lodern, die das Ritual schon seit
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