Palast der Schatten - historischer Kriminalroman
Augen liegen in tiefen Höhlen und zucken. Der Mann sieht Bilder. Er kann sie nicht vertreiben. Sie kleben an ihm, zwängen ihn ein. Er will sie nicht mehr sehen. Doch wenn er die Augen schlieÃt, wühlen sie sich aus seinem Inneren. Sie steigen als böse Geister auf, drängen sich aus seinen Poren und bilden neue Streifenschichten, die sich um ihn winden wie Würgeschlangen.
Die Hände des Mannes sind schmal geformt und von blauen Adern durchzogen. In der rechten Hand hält er ein Feuerzeug, in der linken eine Schere. Die Hände wirken angespannt, verkrampft. Die rechte Hand bebt. Er könnte die Bilderschlangen mit nur einem Klick explodieren lassen, denkt der Mann. Die Flammen würden mit Wucht über ihn hinwegzischen und ihm einen letzten, grausigen Schmerz bereiten. Sein Daumen liegt bereits am Zündrädchen. Fast schon sprüht der Funke. Doch jäh zuckt die linke Hand auf, der Daumen hebt sich, die Finger biegen sich nach unten, öffnen die Scherenflügel. Die Hand lässt die Schere mehrmals auf- und zuklappen. Schneiden, schreit es in dem Mann. Schneiden, nicht brennen. Doch er fürchtet sich. Das Schneiden zerstört die alte Ordnung. Wenn er am Leben bleibt, die Bilder in Stücke zerlegt und neu sortiert, werden sie vielleicht noch unerträglicher. Lieber brennen, nein, schneiden, schneiden, brennen â¦
Der Mann bebt unter der Bilderrüstung. Seine Augen flackern. Rechts oder links? Links oder rechts? Leben oder sterben. Feuer, Schere. Er steht in der Mitte des leeren, weiÃen Raumes. Steht. Steht. Das Rädchen am Daumen, die Schere umklammert. Plötzlich beginnt die linke Hand zu schneiden. Stück für Stück arbeitet die Schere sich durch die Streifen. Die Bilder fallen hernieder wie welke Blätter im Herbst. Sie rascheln, überlagern sich. Einige sind zerkratzt, andere haben Regenstreifen oder sie zittern, als würden sie auf einer Wasserfläche gespiegelt. Die Bilder rieseln. Bilder des Glücks, des Grauens, verblendete, verzerrte Träume, Wahrheiten und Illusionen liegen am Boden. Der Mann schneidet. Sein Herz pocht, sein Kopf wird leichter, die Brust freier. Er ist jetzt ganz entblättert, steht nackt in der weiÃen Landschaft. Ihm zu FüÃen häuft sich sein Leben. Knorrige Starre fällt von ihm ab wie Schorf von Wunden.
Der Mann wirft sich zu Boden. Fieberhaft kriecht er umher, greift nach den Lebensfetzen. Er muss einen Anfang finden, eine neue Ordnung. Er muss die Bilder zum Sprechen bringen. Dann werden sie ihn nie mehr einzwängen, hofft er. Er möchte ganz von vorn beginnen, aber wo ist vorn? Vielleicht ist das Ende der Anfang.
Der Mann gräbt in seinem zerteilten Leben. Er hat eine verblüffende Ãhnlichkeit mit ihm selbst, mit Theo Blum. Ihm scheint, als taste er in seinem Bilderberg nach verborgenen, vergessenen Gefühlen. Wer ist dieser Mann, der so heiÃt und aussieht wie er selbst? Er berührt ihn. Flatterhafte, schwache Erinnerungen an ihn steigen in ihm auf.
Plötzlich hält der Mann ein Bild gegen das Licht. Es zeigt ihn als kleinen Jungen, auf dem Kantstein balancierend. Eine Träne läuft über die Wange des Mannes. Er hat einen Anfang und eine Träne gefunden. Das macht ihm Mut.
Er legt das Bild auf seinen Kopf. Aus ihm entspringt ein Zylinder. Der Mann sieht Theo an mit seinen groÃen silbergrauen Augen. Er lockt ihn mit dem Zeigefinger und seine tiefschwarzen Lippen formen Wörter.
âºKomm! Komm! Tritt ein in den Palast der Schatten. Tritt ein in das Kabinett der Menschenseele. Du wirst Bilder zum Totlachen, zum Weinen, zum Träumen sehen. Du wirst auf dein Leben blicken wie nie zuvor. Eintritt nur 40 Pfennige. Nur 40 Pfennige!
Tritt ein in das Land von Wahrheit und Illusion. Der Allwissende und Unsterbliche, der Lichtakrobat, der zu springen, zu schrumpfen und sich über weite Ebenen zu erstrecken vermag, der Bilderwelten und Seelen zum Leben erweckt, der sich an die Fersen der Menschen schmiegt, der Wanderer zwischen den Welten, der Reisende zwischen Wirklichkeit und Fantasie hat das Schönste und Schrecklichste erlebt. Er hat keine Möglichkeit, das Schicksal von Menschen, weder ihre Hirngespinste noch Taten zu verändern, denn er ist stumm und der Mensch spürt ihn nicht auf der Haut. Nur wer stirbt, fühlt seinen Hauch als kalten Glanz der Todesdüsternis über sich huschen.
Doch der Schatten ist unsterblich. Genau wie jene
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