Palazzo der Liebe
Wunder, dass er über sie lachte!
Aber warum hatte er sie geküsst? Aus einem spontanen Impuls heraus? Versuchte er vielleicht, mit ihr zu flirten?
Oder verspürte er eine ähnlich starke Anziehung wie sie?
Insgeheim hoffte Sophia natürlich das Letztere.
Getröstet von dieser verlockenden Vorstellung, wandte sie ihre Aufmerksamkeit und ihre Sinne wieder der prachtvollen Lagunenstadt und ihrem fremdartigen Zauber zu.
„So ist es schon besser“, kommentierte Stephen und machte damit klar, dass er sie nicht eine Minute aus den Augen gelassen hatte. „Du hast eben so schrecklich angespannt gewirkt, dass ich schon befürchtete, dich mit dem Kuss ernsthaft verärgert zu haben.“
Erstaunt sah Sophia auf sein klares Profil und das helle Haar, das ihm der leichte Fahrtwind in die hohe Stirn wehte.
„Nein, das war es nicht“, sagte sie langsam.
„Was dann?“
„Mir ist einfach bewusst geworden, dass ich mich wie ein Trottel aufgeführt habe“, gestand sie offen. „Ich meine … was meinen Aufenthalt im Palazzo betrifft.“
Er hob die Brauen. „Wunder über Wunder! Eine aufrichtige Frau!“
„Was für eine chauvinistische Bemerkung!“
„Aber zutreffend, oder nicht?“
„Warum sollten Frauen weniger aufrichtig sein als Männer?“
„Eine gute Frage. Ich kann nur sagen, dass meine jahrelange Erfahrung mit dem anderen Geschlecht diese Einstellung in mir gefestigt hat.“
„Dann hast du dich offenbar mit den falschen Frauen eingelassen“, konterte sie.
Er schnitt eine Grimasse. „Und das, obwohl meine Mutter mich so davor gewarnt hat!“
Sophia lachte. „Wunder über Wunder! Ein Mann mit Sinn für Humor …“
Stephen warf ihr einen schnellen Seitenblick zu.
„ Touché“, murmelte er grinsend.
Nach etwa hundert Metern verlangsamte er die Geschwindigkeit. „Da vorn liegt der Palazzo della Fortuna.“
Aufgeregt schaute Sophia in die angezeigte Richtung. Die gotische Fassade des Palazzo ging auf den Canale Grande hinaus. Eine Seite des Gebäudes begrenzte ein Nebenarm des Kanals. Mit den verschnörkelten Balkonen, die wie aus kostbarer Spitze gefertigt wirkten, den zierlichen Marmorbögen und – säulen gehörte er zu den schönsten Bauwerken, die Sophia je zu Gesicht bekommen hatte.
„Gefällt er dir?“, fragte ihr Gastgeber.
„Er ist absolut fantastisch!“, gab sie aufrichtig zurück. „Wie alt ist der Palazzo?“
„Anfang des vierzehnten Jahrhunderts wurde er von Mailänder Steinmetzen und Handwerksmeistern für Giovanni Fortuna erbaut.“ Der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Und obwohl im Laufe der Jahrhunderte einige Umbauten und Erweiterungen vorgenommen wurden, gilt die Fassade immer noch als ein Paradebeispiel der Architektur des fünfzehnten Jahrhunderts und ist eine der besterhaltenen in ganz Venedig.“
„Das glaube ich gern!“
„Besonders der Haupteingang gilt als wahres Schmuckstück.“
Sobald sie auf seiner Höhe ankamen, wusste Sophia, was er damit meinte.
Von dem gemauerten Anleger führten breite Marmorstufen zu einem imposanten Portal empor, das hoch aufragende Marmorsäulen flankierten.
„Leider wird er heute kaum noch benutzt“, erzählte Stephen weiter. „Außer zu besonders festlichen Gelegenheiten.“
Über dem Eingang prangte das Familienwappen. Vor einem königsblauen Hintergrund standen ein goldener Löwe und ein weißes Einhorn, die ein rotes gewölbtes Schild voneinander trennte. Die Inschrift darüber lautete schlicht: For tuna.
Plötzlich hatte Sophia das untrügliche Gefühl, dieses Wappen schon einmal gesehen zu haben. Wie gebannt ruhte ihr Blick darauf, und plötzlich zitterten ihre Hände.
„Alles in Ordnung?“, fragte Stephen.
„Ja … Ich – dieses Wappen erscheint mir so seltsam vertraut.“
„Vielleicht hast du es auf einem Foto gesehen. Vor ein paar Jahren gab es in Past and Present einen Bericht über den Palazzo.“
„Das wäre natürlich möglich“, murmelte Sophia, glaubte aber keine Sekunde daran. Irgendetwas irritierte und beunruhigte sie, und das nicht zum ersten Mal in den letzten Tagen, sondern im Grunde ständig, seit ihr Traummann aus dem Porträt in ihr Leben getreten war.
Als sie nichts mehr sagte, lenkte Stephen das Boot in den kleinen Seitenkanal. Etwa anderthalb Meter über der Wasseroberfläche war eine Reihe von Spitzbogenfenstern in die ornamentierte Wand des Palazzo eingelassen worden, und im Geschoss darüber erstreckte sich über die ganze Länge ein zurückliegender,
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