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Pamuk, Orhan

Pamuk, Orhan

Titel: Pamuk, Orhan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rot ist mein Name
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dieser Schah. Außer seiner Tochter
und den Büchern, die er anfertigen und illustrieren ließ, gab es nichts, was er
liebte. Er hing so sklavisch an der Tochter, daß seine Feinde nicht zu Unrecht
verbreiteten, er sei verliebt in sie. Denn er war so hochmütig und
eifersüchtig, daß es zum Krieg kommen konnte gegen Prinzen oder Schahs in den
Nachbarländern, die es wagten, durch Abgesandte um ihre Hand zu bitten.
Natürlich fand sich keiner, der ein würdiger Gemahl seiner Tochter hätte sein
können, die er hinter vierzig Zimmern und vierzig Schlössern verbarg, weil
auch er an die in Isfahan verbreitete Vorstellung glaubte, daß die Schönheit
seiner Tochter welken müsse, wenn andere Männer sie erblickten. Als eines
Tages ein von ihm in Auftrag gegebenes Buch über Hüsrev und Şirin in
Schrift und Bildern nach Herater Stil vollendet worden war, ging ein Gerücht um
in Isfahan: Die blasse Schöne, die auf einem dichtbemalten Bild zu sehen war,
sei die Tochter des eifersüchtigen Schahs! Noch bevor das Gerede sein Ohr
erreichte, hatte das mysteriöse Bild seinen Argwohn erweckt, und als er mit
zitternden Händen erneut die Seiten des Buches aufschlug, gewahrte er unter
Tränen, daß die Schönheit seiner Tochter tatsächlich abgebildet war. Man behauptet,
es sei nicht die hinter vierzig Schlössern verwahrte Tochter selbst, sondern
allein ihre Schönheit gewesen, die eines Nachts ganz so, wie es die tief gelangweilten
Gespenster tun, aus dem Zimmer entkam, sich in den Spiegeln reflektierte,
durch Schlüssellöcher und unter Türen hindurchschlüpfte und einem unsichtbaren
Dunst, einem Lichtstrahl gleich die Augen eines der nächtens tätigen
Illustratoren erreichte. Der meisterhafte junge Buchmaler konnte sich nicht
zurückhalten, konnte sein Auge nicht lassen von dieser unglaublichen Schönheit
und gab sie in einem Winkel des Bildes wieder, an dem er gerade malte. Diese
Szene beschrieb, wie Şirin auf einem Ausritt ins Freie Hüsrevs Abbild
erblickt und sich in ihn verliebt.«
    »Meister, Efendim, das ist ein großer
Zufall«, sagte Kara. »Denn auch wir lieben jene Szene des Märchens.«
    »Das sind keine Märchen, sondern
alles Dinge, die sich zugetragen haben«, erklärte ich. »Höre: Unser
Illustrator hat die schöne Tochter des Schahs nicht als Şirin gezeichnet,
sondern als eine der Hofdamen, die Şirin zur Hand gehen, Ud spielen und
die Tafel decken, weil er in jenem Augenblick dabei war, eine Hofdame abzubilden.
Auf diese Weise verblaßte die Schönheit Şirins vor dem wunderbaren
Liebreiz der Hofdame am Rande, und die Harmonie des Bildes war dahin. Als der
Schah seine Tochter auf dem Bild sah, wollte er, daß man feststellte, wer
dieser hochbegabte Illustrator war. Der jedoch fürchtete den Zorn des Schahs
und hatte schlauerweise das Bild der Schahtochter nicht im eigenen, sondern in
einem neuen Stil gemalt, damit man ihn nicht erkannte. Denn auch die geschickten
Pinsel manch eines anderen Buchmalers hatten das Bild berührt.«
    »Gut, aber wie fand der Schah
heraus, wer es war, der seine Tochter gemalt hatte?«
    »Indem er die Ohren betrachtete.«
    »Wessen Ohren betrachtete er, die
seiner Tochter oder die auf dem Bild der Tochter?«
    »Eigentlich keine von beiden. Er
folgte zuerst einer Eingebung und legte alle Bücher, die seine Buchmaler
illustriert hatten, vor sich hin, schlug die Bildseiten auf und inspizierte die
Ohren. Und erkannte erneut, was er seit Jahren wußte: Ganz gleich, wie groß das
Talent eines Illustrators war, die Ohren malte ein jeder von ihnen im eigenen
Stil. Ob das Gesicht einem Padischah, einem Kind, einem Krieger gehörte, ob es – Allah bewahre! – das nicht ganz hinter dem Schleier verborgene Antlitz
unseres heiligen Propheten oder das – Allah bewahre! – Gesicht des Satans war,
machte keinen Unterschied. Jeder Illustrator malte die Ohren in jedem Fall auf
jedem Bild wie eine geheime Signatur auf dieselbe Art und Weise.«
    »Warum?«
    »Wenn die Meister der Buchmalerei
ein Gesicht zeichnen, richten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Ausdruck,
die Ähnlichkeit oder Nichtähnlichkeit mit einer Person, auf die Annäherung an
die erhabene Schönheit und die Übereinstimmung mit den herkömmlichen Mustern.
Doch kommt die Reihe an die Ohren, stehlen sie weder von anderen Malkünstlern
noch ahmen sie ein Vorbild nach oder richten sich nach einem wirklichen Ohr.
Denn sie denken nicht, ersehnen nichts und achten nicht weiter auf das, was sie
tun, während sie ein Ohr

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