Pamuk, Orhan
gestalten. Auf diese Weise lassen sie ihren Stiften
aus dem Gedächtnis freien Lauf.«
»Aber zeichnen nicht die großen
Meister ohnehin all ihre Wunderwerke wie aus dem Gedächtnis, ohne sich
wirkliche Pferde, Bäume oder Menschen anzuschauen?« fragte Kara.
»Das stimmt«, sagte ich. »Doch das
sind Erinnerungen, die sie über die Jahre durch Nachdenken, tiefe Anteilnahme
und harte Kopfarbeit während ihrer Tätigkeit sammelten. Da sie im Lauf ihres
Lebens genügend Pferdebilder und wirkliche Pferde gesehen haben, wissen sie
sehr wohl, daß ihre Vorstellung vom vollkommenen Pferd durch das zuletzt
erblickte Pferd aus Fleisch und Blut beeinträchtigt werden könnte. Das Pferd,
das ein Meisterillustrator lebenslang Zehntausende von Malen gezeichnet hat,
kommt am Ende dem von Allah entworfenen Bild eines Pferdes sehr nahe, und der
Künstler weiß das in der Tiefe seines Herzens dank seiner Erfahrung. Das Pferd,
welches die Hand im Nu aus dem Gedächtnis hinwirft, ist mit Können, Mühsal und
Weisheit entstanden und ein Geschöpf, das dem Pferd Allahs nahesteht. Ein Ohr
jedoch, das ohne die angehäufte Erfahrung der Hand, ohne langes Überlegen und
ohne daß auf die Ohren der Tochter des Schahs geachtet wurde, gezeichnet wird,
ist stets ein Makel. Und weil es ein Makel ist, unterscheidet es sich von einem
Künstler zum anderen. Wie eine Art Signatur.«
Es gab Lärm und Bewegung. Die Männer
des Obersten der Gartengarde brachten die Blätter, die sie in den Häusern der
Kalligraphen und Illustratoren beschlagnahmt hatten, in den alten Werkstattraum
der Buchmaler.
»Im Grunde genommen ist das Ohr
ohnehin ein Makel des Menschen«, sagte ich, um Kara ein Lächeln zu entlocken.
»Verschieden, und doch gleich bei jedem – das vollkommen Häßliche.«
»Was geschah dem Buchmaler, der sich
durch die Signatur des Ohrs verriet?«
Um Kara nicht noch mehr Kummer zu
machen, behielt ich für mich, daß er geblendet wurde, und sagte statt dessen:
»Er hat die Tochter des Schahs geheiratet. Diese Methode, die damals wie heute
benutzt wird, um die Identität eines Illustrators festzustellen, ist vielen der
Chane, Schahs und Padischahs, die im Besitz einer Buchmalerwerkstatt sind, als
›Hofdamen-Methode‹ bekannt und wird als Geheimnis bewahrt, damit sie den
Schuldigen sofort ausmachen können, wenn einer ihrer Illustratoren auf seinem
Bild ein frevelhaftes Detail unterbringt und dies später leugnen will. Das
Wesentliche an der Sache ist, jene Kleinigkeiten herauszufinden, die sich
nicht im Herzstück des Bildes befinden und kaum beachtet, rasch gezeichnet und
stets wiederholt werden. Das können Ohren, Hände, Gräser, Blätter, ja, die
Mähnen der Pferde sogar oder auch ihre Beine oder Hufe sein. Doch bedenke, der
Maler weiß nicht, daß sich aus dieser Eigenart seine geheime Signatur ergibt.
Ein Schnurrbart zum Beispiel ist unmöglich, denn viele Maler wissen, daß sie
diesen ganz nach eigener Art zeichnen und die Abbildung eines Schnurrbarts
einer erkennbaren Signatur gleicht. Augenbrauen aber sind eine Möglichkeit,
denn niemand achtet auf sie. Nun komm, laß uns sehen, welche der jungen Meister
ihren Pinsel, ihren Rohrstift auf die Bilder des seligen Oheims setzten.«
So legten wir die Seiten zweier in
verschiedener Manier illustrierter Bücher mit jeweils anderen Geschichten und
Themen nebeneinander, das heimlich bearbeitete Buch des verblichenen Oheims
und das offen unter meiner Aufsicht illustrierte Buch der Feste, und
Kara und ich betrachteten aufmerksam jene Stellen, über die ich mein
Vergrößerungsglas gleiten ließ:
1. Als erstes prüften wir auf der
Seite des Festbuches das offene Maul am Kopf eines Fuchspelzes, den ein Meister
der Kürschner gilde in rotem Kaftan mit Purpurschärpe auf dem Schoß hielt, während
die Gilde an unserem Padischah vorüberzog, der dieser Parade in einem nur für
diesen Zweck erbauten Kiosk zuschaute. Die einzeln sichtbaren Zähne des
Fuchses und die jener ominösen Kreatur auf des Oheims Satansbild, welche, halb
Teufel, halb Riese, weit her von Samarkand gekommen sein mußte, hatte derselbe
Stift – der von Olive – geschaffen.
2. An einem
besonders fröhlichen Tag der Feierlichkeiten war unter dem Fenster, aus dem
der Sultan auf das Hippodrom hinunterschaute, eine Abteilung armer
Frontkrieger in abgerissenen Kleidern erschienen. Einer von ihnen sprach:
»Mein Padischah, wir, deine heldenhaften Soldaten, sind im Kampf für den
Glauben gegen die Leugner in Gefangenschaft
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