Pamuk, Orhan
Wasser aufwischten. Wir
dachten zurück an einen alten, verstorbenen »Meister«, der so einfallslos und
vorsichtig war, daß er an einem Tag nur ein Blatt an einem Baum malen konnte,
und uns nicht schlug, aber zum hundertstenmal tadelte (»Nicht dort, hier wird hingeschaut!«),
wenn er sah, daß wir wieder nicht auf jenes Blatt, sondern durch das offene
Fenster hinaus auf die frühlingsgrünen Blätter der Bäume draußen blickten. Wir
erinnerten uns daran, wie das Gejammer eines mageren Lehrlings durch die ganze
Buchmalerwerkstatt gehallt hatte, als man ihn heimschickte und er mit seinem
Bündel zur Tür ging, weil er zuviel gearbeitet und dadurch zu schielen begonnen
hatte. Dann sahen wir wieder vor unseren Augen, wie aus einem gesprungenen
Bronzefäßchen langsam ein tödliches Rot über eine Seite ausgelaufen war, an
der drei Illustratoren sechs Monate lang gearbeitet hatten (das osmanische
Heer auf dem Weg nach Şirvan
gerät am Ufer des Kınık in Gefahr zu verhungern, besetzt Ereş und kann gesättigt werden), und wir
schadenfroh zuschauten, weil wir nicht schuld daran waren. Auf feine,
achtungsvolle Weise gedachten wir einer tscherkessischen Dame, mit der wir alle
drei geschlafen hatten und in die wir alle drei verliebt gewesen waren. Sie war
die schönste Ehefrau eines siebzig Jahre alten Paschas gewesen, der sich im Hinblick
auf seine Eroberungen, seine Macht und seinen Reichtum dieselbe Ornamentierung
der Decken in seinem Haus wünschte, wie sie in dem Jagdpavillon unseres
Padischahs zu sehen war. Wir dachten sehnsüchtig an die wohltuende
Linsensuppe, die wir morgens im Winter auf der Schwelle der halboffenen Tür
schlürften, damit ihr Dampf nicht die Papiere aufweichte. Und wir sprachen auch
über den Kummer, den wir über die Trennung von unseren Freunden und Meistern in
der Werkstatt empfunden hatten, wenn wir auf Weisung des Altmeisters an einem
weit entfernten Ort als Lehrling arbeiten mußten. Auf einmal wurde der
siebzehnjährige Schmetterling in seiner schönsten, reizvollsten Zeit vor
meinen Augen lebendig: Während an einem Sommertag die Sonne durch das offene
Fenster auf seine nackten, honigfarbenen Arme schien, ließ er die Glättemuschel
in seiner Hand rasch über das Papier gleiten, um es auf Hochglanz zu bringen.
Plötzlich erwachte er aus seiner Versunkenheit, blickte auf einen Fehler im
Papier, untersuchte ihn genau, bewegte die Muschel einige Male auf verschiedene
Weise über die fehlerhafte Stelle, nahm dann wieder seine alte Haltung ein und
schaute träumerisch aus dem Fenster ins Weite, während seine Hand rasch auf und
ab glitt. Ich werde niemals vergessen, wie er seinen Blick für eine winzige
Zeitspanne geradewegs auf meine Augen richtete, ohne erneut zum Fenster
hinauszuschauen – so wie ich es später auch mit anderen tat. Dieser Blick hatte
stets nur eine Bedeutung, die alle Lehrlinge kannten: Die Zeit wird nie
vergehen, wenn du deine Phantasie nicht spielen läßt.
58
Sie werden mich Mörder nennen
Ihr hattet mich vergessen, nicht wahr? Nun sollte
ich aber meine Anwesenheit hier vor euch nicht mehr verheimlichen. Denn das
Bedürfnis, endlich mit dieser in meinem Innern ständig lauter drängenden Stimme
freiheraus zu reden, ist unwiderstehlich geworden. Manchmal kann ich mich nur
schwer zurückhalten und fürchte deswegen, daß mich die Brüchigkeit meiner
Stimme verraten könnte. Manchmal wieder lasse ich mich vollkommen gehen, und
dann kommen jene Worte aus meinem Mund, die Zeichen meiner anderen
Persönlichkeit, die ihr vielleicht bemerken könntet. Meine Hände zittern, der
Schweiß steht mir auf der Stirn, und mir wird sofort klar, daß auch dies neue
Anzeichen sind.
Wo ich doch hier so glücklich bin!
Während wir Buchmalerbrüder zusammensitzen, uns gegenseitig trösten und unsere
Erinnerungen aus fünfundzwanzig Jahren auffrischen, kommen uns nicht unsere
Feindseligkeiten, sondern die Schönheiten und die Freuden des Illustrierens in
den Sinn. Wir sitzen beisammen wie die Haremsfrauen, meinen, das Ende der Welt
sei gekommen, streicheln einander mit tränenfeuchten Augen und denken an
unsere schönen Tage zurück.
Diesen Vergleich habe ich von Ebu
Said von Kerman entliehen, der auch die Erzählungen der alten Meister von
Schiras und Herat weitergab, als er die Chronik der Timuriden schrieb. Schah
Cihan vom Schwarzen Hammel besiegte vor nunmehr einhundertfünfzig Jahren die
kleinen Heere der sich bekämpfenden Chane und Schahs aus dem Geschlecht der
Timuriden,
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