Pamuk, Orhan
hielt Storch mein Heft
aufgeschlagen in der Hand, doch schien er, obwohl wir hinschauten, die von mir
abgebildete Unzüchtigkeit nicht zu sehen.
»Und ich möchte den Jüngsten Tag
malen«, sagte Storch, »mit der Auferstehung der Toten und der Trennung der
Sünder von den Unschuldigen. Warum aber können wir nichts aus unserem Koran
abbilden?«
Ganz so, wie es die alten Meister
taten, um ihre Augen auszuruhen, hatten auch wir in jungen Jahren bei unserer
Arbeit im gleichen Raum der Buchmalerwerkstatt manchmal unseren Kopf vom
Arbeitspult, vom Buchständer erhoben und über irgendein Thema zu reden
begonnen, das uns zufällig einfiel. Und wie wir uns jetzt nicht anschauten,
während wir in das offen vor uns liegende Heft blickten, so hatten wir uns
damals nicht angeschaut, während wir darüber sprachen, was uns gerade durch den
Kopf ging. Denn wir hatten unsere Augen, um ihnen Ruhe zu gönnen, durch das
offene Fenster ins Freie gerichtet. Kam es nun von der aufregenden Erinnerung
an etwas Schönes aus den Lehrlingstagen, oder von der aufrichtigen Reue, die
ich in jenem Augenblick empfand, weil ich den Koran schon lange nicht mehr
aufgeschlagen und gelesen hatte, oder noch von dem Entsetzen über den Mord,
dessen Zeuge ich abends im Kaffeehaus geworden war, das weiß ich nicht mehr,
doch als die Reihe zu sprechen an mich kam, verwirrten sich meine Gedanken,
mein Herz schlug schneller, als befände ich mich in Gefahr, und da mir nichts
Besseres einfiel, sagte ich nur:
»Da gibt es am Ende der Sure
Al-Bakarah einige Verse, die ich am liebsten malen möchte; erinnert ihr euch?
Sie sagen: O Allah, bestrafe uns nicht, wenn wir ohne böse Absicht gefehlt
oder wenn wir uns gar versündigt haben. Lege uns nicht das Joch auf, das Du
denen auferlegt hast, die vor uns lebten. Lege uns nicht mehr auf, als wir
tragen können. Verzeih uns, vergib uns, erbarme Dich unser.« Meine Stimme
brach, und ich schämte mich meiner plötzlich hervorquellenden Tränen,
vielleicht, weil ich mich vor dem Spott fürchtete, den wir in unseren
Lehrjahren stets zu unserem Schutz bereithielten, um unsere Empfindsamkeit zu
verbergen.
Ich dachte, meine Tränen würden sogleich
versiegen, konnte mich aber nicht beherrschen und begann laut zu schluchzen.
Während ich weinte, wurden die anderen, wie ich spüren konnte, vom Gefühl der
Brüderlichkeit, der Niederlage und der Trauer ergriffen. Die Buchmalerwerkstatt
unseres Padischahs würde nunmehr im fränkischen Stil illustrieren, die Methoden
und die Bücher, denen unser ganzes Leben gewidmet war, würden langsam in
Vergessenheit geraten, alles würde im Grunde genommen zu Ende gehen, und wenn
uns die Leute des Erzurumers nicht in eine Ecke drängten und verprügelten, dann
würden uns die Folterknechte des Sultans zu Krüppeln machen ... Während ich
schluchzte und seufzte – wobei ich weiterhin auf das melancholische Getrippel
des Regens horchte –, erfaßte doch ein Teil meines Verstandes, daß nicht diese
Dinge der Anlaß für meine Tränen waren. Wieweit hatten die anderen dies
bemerkt? Ein undeutliches Schuldgefühl plagte mich, weil ich sowohl echte als
auch falsche Tränen vergoß.
Schmetterling kam zu mir, legte mir
die Hand auf die Schulter, strich mir übers Haar, küßte mich auf die Wange und
sprach mir tröstend zu. Dieser Freundschaftsbeweis ließ mich noch heftiger
weinen, aus echtem Kummer wie aus Schuldgefühl. Ich konnte ihm nicht ins
Gesicht sehen, aber ich bildete mir ein, daß auch er weinte. Wir setzten uns
beide.
In dieser Stimmung erinnerten wir
uns daran, daß man uns im gleichen Jahr in die Lehre gegeben hatte, erinnerten
uns an die traurige Fremdheit eines anderen Lebens, als wir plötzlich von unseren
Müttern getrennt wurden, an den Schmerz der Schläge, die wir gleich vom ersten
Tag an einstecken mußten, an die Freude über die ersten Geschenke, die vom
Schatzmeister kamen, und an jene Tage, an denen wir den ganzen Weg bis nach
Hause gerannt waren. Zuerst sprach er allein, und ich hörte bekümmert zu, doch
als sich bald darauf Storch an der freundschaftlichen Unterhaltung beteiligte,
und noch ein wenig später auch Kara, der während unserer ersten Lehrjahre eine
Zeitlang in die Buchmalerwerkstatt gekommen war, vergaß ich meine eben noch
vergossenen Tränen, lachte mit ihnen und begann auch zu erzählen.
Wir erinnerten uns an die
Wintertage, wenn wir Lehrlinge morgens früh aufstanden, den Kamin im größten
Werkstattraum heizten und die Fußböden mit heißem
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