Pandablues: Roman (German Edition)
Kindheitsgeschichten aus dem Weg zu gehen.
»Ja, da hab ich was für euch!« Heinrich zerrte eine der mittelgroßen Nordmanntannen hervor, die allerdings nur von vorne gut aussah, und beim Drehen ein erhebliches Loch im unteren Teil ihres Nadelgewands aufwies.
»Aber die ist doch total verkrüppelt!«
»Tja, das ist die letzte Nordmann, die ich habe. Hab sie extra für Melitta aufbewahrt. Weißt doch, dass sie keine andere Sorte nimmt. Aber für eine schickere hättet ihr früher kommen müssen, nicht auf den letzten Drücker. Musste die sogar vor dem Ansturm verteidigen, das kannste mir glauben.«
Ich war entgeistert. Heinrich war der einzige Tannenbaumverkäufer im Umkreis, und bis zum nächsten Dorf waren es dreißig Kilometer. Und da sah es sicher nicht besser aus. Natürlich waren wir spät dran, einen Tag vor Heiligabend, aber dass Heinrich mir eine derart verkrüppelte Tanne anbot, war ja wohl eine Frechheit. Wo er doch Melitta seit fünfzig Jahren kannte!
»Aber nur für den halben Preis«, feilschte ich entschieden.
Eric und Heinrich wechselten bedeutungsvolle Blicke, an deren Ende Eric schuldbewusst die Schultern hob.
Heinrich schüttelte den Kopf. »Wie die Oma, ganz wie die Oma«, murmelte er nur, während er die Tanne in das Tannenbaumnetz einzog.
*
»Was ist das denn für ein Krüppel?« Melitta sah uns entgeistert an. »Das ist doch nicht euer Ernst?«
»Es gab keine andere mehr, es war die letzte Nordmann!«, versuchte ich, mich zu verteidigen.
Eric hievte die Tanne aus dem Netz und drapierte sie direkt vor Melittas pantoffelbeschuhten Füßen. Mittlerweile lag der Schnee einige Zentimeter hoch.
»Die letzte, die letzte! Dass ich nicht lache! Das letzte Einhorn, ja! Das letzte Abendmahl, ja! Der letzte Mohikaner, gut! Aber der letzte Tannenbaum sicher nicht! Tsss!«
Ich gab auf. Hier würde keine noch so gut durchdachte Argumentationslinie helfen.
»Nein, nein, das geht so nicht«, schimpfte Melitta weiter wie ein Rohrspatz. »Das geht noch nicht mal mit fünf Kilo Lametta drauf!«
Ich seufzte. Auch das war irgendwie ein alljährliches Ritual geworden, dass es kein Baum in Melittas Recall schaffte, egal wie schön oder verkrüppelt er gewachsen war.
»Und nun?«, fragte ich erschöpft.
»Erich muss halt auf den Baum da steigen!«, sagte Melitta trocken und deutete mit dem Kinn auf eine der riesigen Tannen vor dem Haus.
Bitte? Die ist sicher zehn Meter hoch!
Außerdem war es schon dunkel und Eric sicher kein geübter Kletterer …
»Erich«, kommandierte Melitta meinen Freund, »ich hab im Schuppen eine alte Säge. Damit kannste die Spitze von der Tanne da absägen. So zwei Meter müssen reichen. Das kannste doch wohl, gell?«
Eric hielt sich weiter tapfer. Tapferer, als ich je zu hoffen gewagt hätte.
»Sicher!«, antwortete er und stapfte wortlos zum Schuppen.
Es würde eine lange Nacht werden, das war jetzt wohl auch ihm klar geworden.
Während Eric sich unter Melittas Aufsicht an der Tanne im Vorgarten zu schaffen machte, warteten drinnen Marlene, Jürgen und ich auf die Ankunft von Renate und Jörn.
Eigentlich wollten die beiden schon früher nach Deutschland gekommen sein, aber wie uns Renate per SMS mitgeteilt hatte, liefen die Husky-Schlittenfahrten rund um die Weihnachtszeit nahezu bombastisch, und sie wollten sich das Geschäft nicht entgehen lassen.
Zusammen mit Jörn hatte Renate sich einen Haufen Schlittenhunde angeschafft und veranstaltete relativ erfolgreich – wie sie zumindest behauptete – organisierte Schlittenfahrten durch das ewige Eis.
Dass Renate wegen Jörns illegaler Jagd mit ihm zusammen in U-Haft gesessen hatte, stieß Melitta immer noch übel auf. Auch Marlene als engagierte Greenpeace-Aktivistin war trotz des Naidoo-Autogramms alles andere als erfreut über Jörns Besuch. Sie nannte ihn immer nur »den Tierkiller« und fluchte über Renates Inkonsequenz in Sachen Tierschutz. Ich befürchtete, dass ein Aufeinandertreffen nicht unbedingt problemlos ablaufen würde.
Renate hatte mir erzählt, dass Jörn sogar recht gut deutsch sprach, was bedeutete, dass er eben auch alles verstehen könnte, was er besser nicht hören sollte.
Ich hatte uns dreien einen heißen Kakao mit Schuss gemacht und beobachtete Melitta und Eric durchs Küchenfenster.
Melitta stand in Pantoffeln und im Bademantel im Dunkeln vor der riesigen Tanne, die Eric mithilfe einer Leiter zu erklimmen versuchte. Sie hatte wieder ihre Taschenlampe in der Hand, dieselbe, mit der sie auch
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