Pandaemonia 01 - Der letzte Traumwanderer
von einer Seite auf die andere und verfluchte die Nacht.
Bei Einbruch der Dunkelheit zog sie sich stets in ihre Kammer zurück. Wenn die Sonne hinter dem Horizont versank, verschmolzen die Schatten mit der Finsternis, bis sie schließlich verschwanden und für Umbra unerreichbar wurden. Deshalb mied sie die Dunkelheit, so gut sie konnte. Ohne die Schatten war sie schwach.
Sie verlor ihre Kräfte, sowie der letzte Sonnenstrahl erlosch. Gegen die Erschöpfung, die sie anschließend überkam, war sie machtlos, weswegen sie meist früh zu Bett ging. Sie löschte die Kerze und schlief wenig später ein, um nach einigen Stunden vom ersten Licht des Tages geweckt zu werden, erfüllt von neuer Vitalität, die sie den langen Schatten des Morgens verdankte.
Heute jedoch fand sie keinen Schlaf. Wenn sie die Augen schloss, kamen die Bilder - Erinnerungen an eine andere Nacht, eine Nacht voller Feuer und Blut. Sie hatte diese Bilder tief in sich eingeschlossen, in einem dunklen Winkel ihrer Seele, und
meist gelang es ihr, nicht daran zu denken. Manchmal jedoch kehrten sie unvermittelt zurück, so klar und deutlich, als würde sie die Ereignisse jener Stunden noch einmal durchleben.
Sogar die Schreie konnte sie hören.
Lange nach Mitternacht stand Umbra schließlich auf, zog sich trotz der bleiernen Schwere in ihren Gliedern an und verließ ihr Zimmer. Ziellos streifte sie durch Flure und Säle des Palasts, floh vor der Vergangenheit, in der Hoffnung, den quälenden Erinnerungen zu entkommen.
Seit vier Jahren lebte sie hier. Sie kannte jedes Zimmer, jede Nische des verwinkelten Anwesens, fand sich sogar bei Nacht darin zurecht. Die Finsternis in den Korridoren machte ihr zu schaffen, doch sie widerstand dem Drang, zu ihrer Kammer zurückzukehren. Die Dunkelheit war leichter zu ertragen als die Stille in ihrem Zimmer, in der sie mit ihren Gedanken allein war. Außerdem ging bald die Sonne auf. Sie konnte bereits spüren, wie die Erschöpfung nachließ.
Sie hatte keine Stiefel angezogen. Sie liebte es, die kühlen Steinfliesen unter ihren nackten Fußsohlen zu spüren. Barfuß stieg sie eine Wendeltreppe hinauf, staubige Stufen, die sich in einem Eckturm emporwanden. Oben angekommen, trat sie an ein milchiges Bleiglasfenster, wischte die Spinnweben weg und blickte über die Stadt, die sich vor ihr ausbreitete. Hunderte von Laternen glitzerten in den dunklen Gassen, wie ein Meer aus Sternen.
Sie wollte zusehen, wie die Sonne hinter den Hügeln östlich des Kessels aufstieg und die Schatten von Dachgiebeln, Kaminen und Wetterfahnen auf Straßen und Plätze zeichnete. Wenn ihre Kräfte erwachten, würde sie stark genug sein, die Erinnerungen zu bezwingen. So war es jedes Jahr.
Im Osten färbte sich der Himmel erst violett, dann blau, schließlich orange. Trübes Morgenlicht kroch über die Anhöhe. Stadthäuser und Villen tauchten aus der Dunkelheit auf.
Umbra stand reglos am Fenster, als die Sonne hinter den Dächern erschien. Spürte, wie ihr Schatten in die Länge wuchs. Fühlte ihre Kraft zurückkehren.
Die Nacht war zu Ende. Umbra lächelte.
Sie blieb noch eine Weile auf der Turmspitze und lauschte den Geräuschen der erwachenden Stadt, die kaum hörbar zu ihr heraufdrangen, ehe sie schließlich die Treppe hinunterstieg und bei jedem Schritt die Energie genoss, die durch ihren Körper strömte. Die quälenden Bilder verblassten bereits. Irgendwann im Lauf des Tages, während sie ihren Pflichten nachging, würden sie gänzlich verschwinden.
Bis zum nächsten Mal , flüsterte eine Stimme in ihrem Innern, doch Umbra schenkte ihr keine Beachtung.
Ihr Tag begann stets damit, dass sie Jackon im geheimen Zimmer abholte, wohin sie ihn jeden Abend brachte. Allerdings würde der Junge frühestens in einer halben Stunde aufwachen, sodass sie noch genug Zeit hatte, zu frühstücken. Nach solch einer Nacht brauchte sie dringend einen Kaffee.
Während sie zu dem Trakt ging, den Corvas, Amander und sie bewohnten, hörte sie ein Geräusch. Es kam aus einem verlassenen Korridor.
Umbra blieb stehen und horchte. Da war es wieder: platschende Schritte, gefolgt von schnaufendem Atem.
Sie seufzte. Primus. Nicht schon wieder. Wann brachte die Herrin an seinem Käfig endlich ein Schloss an, mit dem er nicht so einfach fertig wurde?
Mit einer Zornesfalte zwischen den Augenbrauen folgte sie dem Flur. Die aufgehende Sonne schien durch die Buntglasscheiben und überzog Wände und Boden mit einem verwirrenden Farbenspiel.
Primus hatte sie
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