Pandaemonia 02 - Die Stadt der Seelen
empfindungslose Leere in ihr ausbreitete und alle Gefühle verdrängte. Ihre gesamte Konzentration richtete sie darauf, den nächsten Schritt zu tun, nicht zu stürzen. Die meiste Zeit hielt sie den Kopf gesenkt, denn wenn sie aufschaute oder gar einen ihrer Gefährten ansprach, riskierte sie, geschlagen und angespuckt zu werden.
Irgendwann erreichten sie den Talkessel, in dem Nachachs Burg stand. Liam schritt an der Spitze der Schar, herrisch wie ein Eroberer, als der Trupp über den Sattel zog, der den Bergrücken mit der Felsnadel verband. Endlose Serpentinen schraubten sich an dem turmartigen Gebilde empor, das aus wuchernden Felssträngen bestand, durchsetzt von Stützwänden und klaffenden Öffnungen. Eisig heulte der Wind um Wegbiegungen und Plattformen, und es erschien Vivana wie eine Ewigkeit, bis sie schließlich zum Tor gelangten. Das Böse, das sie vor einigen Tagen aus einer Entfernung von mehreren Meilen gespürt hatte, war hier so intensiv, dass sie kaum noch atmen konnte.
Dämonen mit geschnitzten Knochenhelmen erschienen auf der Brüstung, Befehle wurden gebrüllt, und das Tor öffnete sich knarrend. Der Trupp marschierte in eine Halle voll von Schatten und glühendem Zwielicht. Nirgendwo schien es geometrische Formen zu geben; Steinwülste bildeten Wände, wuchsen um Öffnungen herum, verdichteten sich zu Pfeilern und sehnenartigen Streben, wodurch der Raum wie das Innere eines gewaltigen Organs wirkte. Feuer züngelte aus Schächten herauf, und im Schein der Flammen erschienen fratzenhafte Gesichter, Scharen von Dämonen, die aus Löchern und Durchgängen schlüpften, um die Gefangenen anzuglotzen. Das Halbdunkel war erfüllt von Flüstern und Zirpen.
An der Stirnseite der Halle blieb die Horde stehen. Vivana
konnte spüren, dass die Bewohner der Festung ihnen gefolgt waren und sich dicht hinter ihr zusammendrängten. Stufen und Rampen führten zu einem Podest, auf dem zwei flackernde Feuerpfannen standen. Dahinter erhob sich ein Thron, der kaum als solcher zu erkennen war, denn er bestand gänzlich aus rostigen Metallteilen, aus Rädern, Waffen und Stangen, die man ohne erkennbare Ordnung aneinandergeschmiedet hatte.
Das Geschöpf, das darauf saß, war anderthalb mal so groß wie ein Mensch und besaß einen knochigen Leib, dünne Beine und Arme mit Krallenhänden, die auf den Thronlehnen lagen. Der Schädel hatte eine seltsam eckige Form und wies ein mit spitzen Zähnen bewehrtes Maul und schräg stehende Augen auf. Ob das Wesen männlich oder weiblich war, konnte Vivana nicht einschätzen, denn das Gesicht vereinte auf verwirrende Weise Eigenschaften beider Geschlechter in sich.
Der Dämon – zweifellos Nachach – bot einen Furcht erregenden Anblick, dennoch verspürte Vivana weit größeres Entsetzen, als sie die Gestalt erkannte, die neben dem Thron stand.
Es war Seth.
Er? , dachte sie. Aber wieso? Der Incubus schien ihre Verwirrung und Furcht genau zu spüren und bedachte sie mit einem dünnen Lächeln.
In diesem Moment trat Liam vor. »Mächtiger Nachach, mein Bruder«, sagte er und verneigte sich vor dem Thron. »Es ist lange her. Dich zu sehen macht mich glücklich.«
Bei dem Geräusch, das Nachach von sich gab, lief Vivana ein Schauder über den Rücken. Es war ein raspelndes Lachen, wie das Schmirgeln eines Wetzsteins auf rostigem Stahl. Dann sprach er. Seine Stimme war nicht laut, aber so unangenehm und durchdringend, dass Vivana sie mit jeder Faser ihres Körpers spürte. »Ich bewundere deinen Mut. Du kommst einfach
in mein Haus und trittst vor meinen Thron, nach allem, was du getan hast. Hast du vergessen, dass ich dir den Kopf abreißen wollte, wenn du dich je wieder blicken lässt?«
»Es ist viel zwischen uns vorgefallen, und ich verstehe deinen Zorn«, erwiderte der Liam-Dämon mit einer Demut, die gar nicht zu seiner üblichen Großspurigkeit passte. »Aber ich bin hier, um unseren Streit beizulegen. Ich erbitte deine Verzeihung und bringe dir zum Dank für deinen Großmut Geschenke. «
»Geschenke?«, fragte Nachach.
»Wie du siehst, habe ich einen neuen Körper. Einen menschlichen Leib, wie ich ihn mir immer ersehnt habe. Ich habe ihn einem Jungen gestohlen, der in deinem Reich gestrandet ist.« Der Liam-Dämon wies auf Vivana, ihren Vater und Lucien, die vor dem Podest knieten. »Dies sind seine Gefährten. Sie sollen dir gehören, als Zeichen meiner Freundschaft.«
Nachach erhob sich von seinem Thron und stieg die Treppe hinunter. Obwohl seine Bewegungen wegen
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