Pandoras Tochter
die Bahn?«
Sie bemühte sich, einen klaren Kopf zu bekommen. Die Stimmen waren weg. Seltsam. Nein, irgendwie … gar nicht seltsam. Erschreckend vertraut. »O doch.« Sie setzte Davy in den Waggon und ließ sich neben ihm nieder. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen. Was, zum Teufel, war los mit ihr?
Mama.
»Sieh dir die Robben an, Megan.« Davy beugte sich eifrig vor, als sie an dem Wasserbecken vorbeifuhren. »Ich hab mal einen Film über eine Robbe gesehen. Der war lustig.«
»Tiere können lustig sein, genau wie Menschen, Davy. Der einzige Unterschied ist, dass wir manchmal nicht merken …«
Stimmen!
Kräftiger. Lauter. Schreie.
Unverständliches Gebrüll mit Widerhall.
Stimmen. Stimmen. Echo. Echo.
Nein!
Sie sank zusammen, als der Schmerz sie traf.
Davy schrie.
Sie musste sich zusammennehmen. Davy hatte Angst. Sie musste aufpassen …
Die Stimmen wurden leiser und verstummten schließlich ganz. Sie nahm vage wahr, dass ein uniformierter Schaffner neben ihr stand, sie besorgt ansah und etwas sagte …
Langsam richtete sie sich auf.
Davy weinte.
Instinktiv legte sie den Arm um ihn und zog ihn an sich. »Ist schon gut …« Ihre Aussprache war schleppend. Sie versuchte, ihre Stimme zu festigen. »Alles ist in Ordnung, Davy.«
»Soll ich Sie zur Ersten-Hilfe-Station bringen, Miss?«, fragte der Schaffner. »Gibt es jemanden, den ich für Sie anrufen kann?«
»Nein, mir geht’s gut.« Das stimmt nicht, dachte sie panisch. Lieber Himmel, diese Stimmen … Was, wenn es noch einmal passierte? Davy. Sie musste Davy schützen. »Eine kleine Unpässlichkeit. Vielleicht könnten Sie eine Weile bei uns bleiben, bis ich Davys Mom erreiche und sie bitten kann, den Jungen hier abzuholen.« Sie nahm ihr Handy aus der Tasche. »Ich rufe deine Mom an, Davy. Ich bekomme wohl eine Grippe oder so was.« Sie fuhr ihm zärtlich durchs Haar und drückte ihn an sich. »Erinnerst du dich? Vor ein paar Monaten warst du krank. Nach ein paar Tagen ging es dir wieder prächtig, aber eine Weile hast du wacklige Beine gehabt.«
»Wacklige Beine«, wiederholte er und schmiegte das Gesicht an ihren Arm. »Ich will nicht, dass du krank bist.«
»Mir ist nur ein klein wenig übel. Ich bin Ärztin, deshalb kenne ich so was. Morgen bin ich wieder ganz okay.« Sie strich ihm mit den Lippen über die Stirn. »Willst du lieb und ganz still sein und meine Hand nicht loslassen? Manchmal hilft das, dass sich die Menschen besser fühlen …«
»Du bist aber schnell wieder da.« Phillip schaute auf, als sie hereinkam. »Ich habe dich erst in ein paar Stunden zurück erwartet. Hat es Davy nicht gefallen …« Er brach ab, als er ihr Gesicht sah. »Was ist los?«
»Nichts.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Nur schreckliche Kopfschmerzen. Ich habe Jana gebeten, Davy im Zoo abzuholen. Ich wollte ihm den Tag nicht verderben.«
»Du hast nie Kopfschmerzen.«
»Jetzt hab ich sie.« Sie ging zu ihrem Zimmer. »Ich lege mich hin und versuche, sie wegzuschlafen. Wir sehen uns in ein, zwei Stunden.«
Sie lehnte sich an die Tür, nachdem sie sie hinter sich geschlossen hatte. Sie hasste es, Phillip zu belügen. Von Anfang an waren sie immer ehrlich zueinander gewesen.
Diesmal ging es nicht anders. Sie konnte im Augenblick niemandem gegenübertreten. Sie wollte sich ins Bett verkriechen wie ein weidwundes Tier in seine Höhle.
Höhle.
Baggersee.
Mama.
Ein Mann. Dunkle Augen starren sie an. Auflodernde Angst. Vergehende Angst.
Wurde sie verrückt?
Nein, Mama hatte gesagt …
Sie konnte sich nicht mehr erinnern, was ihre Mutter gesagt hatte. Es war genauso undeutlich und verschwommen wie die Stimmen, wie der Schmerz …
Schlaf, ruh dich aus. Lass alles von dir abfallen. Später, wenn sie wieder wach war, konnte sie nachdenken und Pläne schmieden, wie sie mit diesem unheimlichen Phänomen umgehen konnte.
Sie kroch unter die Decke und rollte sich zusammen. Alles kam wieder in Ordnung. Sie konnte mit dem, was mit ihr geschah, fertig werden. Sie brauchte nur ein bisschen Zeit, um einen klaren Kopf zu bekommen und zu entscheiden, was sie tun musste.
Und sie musste beten, dass die Stimmen wieder verschwanden.
»Ich will sie sehen«, sagte Grady, als ihm Phillip zwei Stunden später die Tür aufmachte. »Und ich möchte keine Widerworte und nichts von dem fürsorglichen Unsinn hören, Phillip.«
Phillip zuckte zurück. »Warum sollte ich Ihnen widersprechen? Ich bin derjenige, der Sie angerufen hat. Schon
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