Pandoras Tochter
diesem Mist verloren. Sie hatte Megan weisgemacht, diese Stimmen würden von einer Krankheit hervorgerufen, und ihr eingeschärft, mit niemandem darüber zu reden. Seit ihrem siebten Lebensjahr hatte Megan diese Stimmen gehört, aber anfangs nur leise und von weit her. Erst in die Pubertät hatten sie nach ihr geschnappt wie Haie. Aber Mama war da, um sie zu trösten, und bald verstummten die Stimmen.
Es gelang ihr, die Echos in Schach zu halten.
Ich musste einschreiten, sonst wärst du mit ihr gestorben.
Stimmte das? Was war gelogen?
Wenn sie Grady glauben konnte, dann basierte ihr ganzes Leben auf Lügen.
O Gott, und sie hatte das schreckliche Gefühl, dass sie anfing, ihm zu glauben.
K APITEL 4
V
erdammt, ich habe sie ohne alles allein gelassen, dachte Grady unwillig, als er ins Wohnzimmer kam. Er hatte bloß den Weg zu dem dornigen Pfad geebnet.
»Und?« Phillip sah auf. »Wie hat sie es aufgenommen?«
»Erwartungsgemäß.« Grady ging zum Fenster und schaute in den Garten. »Sie hält mich für geistesgestört. Sie wehrt sich verbissen und würde am liebsten den Kopf in den Sand stecken.«
»Das überrascht mich nicht. Haben Sie ihr gesagt, dass sie eine Pandora sein könnte?«
»Nein, ich hab ihr gesagt, dass sie eine Lauscherin ist. Daran hatte sie ohnehin schon genug zu knabbern.«
»Vielleicht ist sie ja wirklich nicht mehr.«
Grady hoffte, dass Phillip recht hatte. Er hatte sich seine Objektivität erhalten können, bis er heute ihr Zimmer betreten hatte. Während des ganzen Gesprächs hatte Megan Mut und Stehvermögen bewiesen; das berührte ihn in einer Weise, die nichts mit Mitleid zu tun hatte. Er hatte sie verletzt, aber nicht vernichtet. Am liebsten würde er ihren Schmerz lindern, aber gerade der Schmerz würde sie anstacheln, das zu tun, was er von ihr wollte. »Von Molino oder der Chronik hab ich ihr nichts erzählt. Sie hatte schon genügend Schwierigkeiten, die Wahrheit über ihre Mutter zu akzeptieren.« Er ging zur Haustür. »Und über Sie.«
»Sie haben mit ihr über mich gesprochen? Vielen Dank, Grady. Hätte das nicht warten können? Verdammt, ich bin ihr bester Freund.«
»Keine Lügen mehr. Zeit, reinen Tisch zu machen.«
»Selbst wenn sie jetzt ganz allein dasteht?«
Grady nickte. »Ich habe sie zwölf Jahre lang in einen Kokon aus Lügen gehüllt. Sie muss sich daraus lösen und sich der Wahrheit stellen. Jetzt gehen Sie zu ihr, und helfen Sie ihr. Sie ist sehr verletzt.«
»Dank Ihnen.«
»Erwarten Sie, dass ich das abstreite?«, fragte er grob. »Natürlich hab ich ihr das angetan. Und ich würde es wieder tun.« Er schlug die Haustür hinter sich zu und rannte die Außenstufen hinunter. Er musste weg von Megan Blair, Phillip und all den Qualen, die er ihnen bereitet hatte. Es spielte keine Rolle, dass er das für nötig erachtete. Manchmal war es beschissen, dass zu tun, was getan werden musste. Er wollte derjenige sein, der jetzt zu Megan ging und ihr Trost und Hoffnung spendete. Er wollte ihre Hand halten und ihr sagen, dass er all die Dämonen von ihr fernhalten würde.
Das durfte er nicht. Eine Bedrohung war auch ein Ansporn, und vielleicht hatte er so handeln müssen. Sollte Phillip die Prinzessin in Not retten.
Grady war daran gewöhnt, der schwarze Ritter zu sein.
»Darf ich reinkommen?«, fragte Phillip leise. »Wenn du willst, komme ich später wieder.«
»Warum?« Megan setzte sich auf. »Würde das etwas an dem ändern, was du mir zu sagen hast?«
»Nein.« Er schloss die Tür. »Lügen sind immer schmutzig, und diese spezielle liegt mir schon seit Jahren schwer im Magen. Ich bin froh, dass du jetzt Bescheid weißt.« Er nahm auf dem Stuhl neben dem Bett Platz. »Du siehst furchtbar aus. Kann ich dir irgendetwas bringen?«
Sie verzog den Mund. »Vielleicht wieder eine gemütliche heiße Schokolade? Spar dir die Mühe. Du musst das Spiel nicht länger spielen.«
»Das war kein Spiel«, widersprach er sanft. »Es war mir ein Vergnügen. Unsere gemeinsame Zeit ist mir lieb und teuer.«
Sie spürte, wie ihr Widerstand schmolz. Nein, sie durfte nicht schwach werden. Er hatte sie betrogen. »Er hat gesagt, dass er dich bezahlt hat. Stimmt das?«
»Ja, ich musste ja von etwas leben, bis ich hier beruflich Fuß gefasst hatte. Aber ich hab es nicht wegen des Geldes getan. Ich wollte dir helfen, Megan.«
»Ja, klar.«
»Sieh mich an. Ich weiß, dass du verwirrt und verletzt bist und dich einsam fühlst.« Seine Hand schloss sich um ihre. »Du bist
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