Pandoras Tochter
Sturm. Sie trafen sich in diesem Sommer einige Male heimlich in der Höhle – ihre Tochter Gail wurde dort gezeugt. Donald stritt ab, der Vater zu sein; Kitty verlor ihren Job in der Teppichfabrik und wurde praktisch aus der Stadt gejagt. Aber sie wehrte sich, sparte Geld für den Anwalt und strengte eine Gerichtsverhandlung an, als ihre Tochter sieben Jahre alt war.«
»Und hatte sie Erfolg vor Gericht?«
»Nein. Donalds Familie war einflussreich und vermögend. Kitty stand mit leeren Händen da. Sie musste die Gerichtskosten bezahlen, und ihr Ruf war ein für alle Mal dahin, was zu der Zeit ein schreckliches Los war. Ich wollte herausfinden, was aus ihr geworden ist, hatte aber nicht die Zeit, Nachforschungen über die Dinge anzustellen, die außerhalb der Höhle vorgefallen sind.«
Er sah auf den dritten Namen. »Was ist mit Baby John?«
»Darüber konnte ich nichts finden«, antwortete sie kopfschüttelnd. »Vielleicht hat er keine Gewalt in der Höhle erfahren. Oder seine Mutter hat sich wie ein verwundetes Tier in die Höhle verkrochen, nachdem ihr kleiner John gestorben oder verletzt worden war. Es gibt keine größere Tragödie, als ein Kind zu verlieren.«
Grady malte ein Fragezeichen neben die Notiz »Baby John«. »Zwei von drei. Nicht schlecht.«
»Nicht schlecht? Es ist furchtbar. Alles ist schrecklich.« Sie brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen, als er den Mund aufmachte. »Ja, ich weiß, du spielst auf meine ›Trefferquote‹ an. Aber ich kann die Stimmen nicht von den traumatischen Erlebnissen trennen. Ich kann meinen eigenen Schmerz nicht lindern. Es ist, als würde ich ihn einsaugen und könnte ihn nicht mehr abschütteln. Ist das Phillips Frau jemals gelungen?«
Er nickte. »Aber sie hat die Emotionen niemals so stark empfunden wie du. Nora konnte die Stimmen nicht unterscheiden. Sie waren nur wie eine Geräuschkulisse, wie die Schreie der Insassen einer Irrenanstalt. Ich denke, so ergeht es den meisten Lauschern.«
»Wieso habe ich dann dieses Glück?«, fragte sie sarkastisch.
Er schaute in seine Tasse. »Dein besonderes Talent hat vielleicht noch andere Facetten.« Er wechselte das Thema. »Du hast meine Frage nicht beantwortet. Du hast nach Tatsachen gesucht, an die du dich klammern kannst, nach überzeugenden Beweisen. Hast du sie gefunden?«
»Es könnten alles nur Vermutungen sein, Zufälle.«
»Hast du sie gefunden?«, wiederholte er. »Glaubst du mir? Akzeptierst du, was du bist?«
Sie schwieg eine Weile – sie sträubte sich, es auszusprechen. Dieses Eingeständnis würde alles verändern: ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart und die Zukunft. Sie würde sich selbst nicht mehr so sehen wie bisher.
»Ziemlich unheimlich, wie? Du brauchst dich dem nicht allein zu stellen, wenn dir das hilft. Ich bin für dich da.«
»Ich will deine Hilfe nicht.« Das entsprach nicht der Wahrheit. Sie wollte jede Hilfe, die sie bekommen konnte, aber sie konnte sie nicht annehmen. »Ich bin, was ich bin, und muss allein mit den Problemen fertig werden.«
»Und was genau bist du, Megan?«, fragte er leise. »Sag es.«
»Ich bin eine einigermaßen intelligente Frau und Ärztin.«
»Und?«
Sie zögerte, dann bekannte sie stockend: »Ich bin eine Lauscherin, verdammt.«
Er lächelte. »Endlich.«
»Aber ich bin nicht Nora und werde mich nicht wie sie von dir abhängig machen.«
»Das habe ich begriffen, als ich hinter dir herfahren musste und du beschlossen hattest, deinen Dämonen zu begegnen. Die meisten Menschen wären traumatisiert gewesen. Ich glaube, dass es deinem Charakter widerspricht, dich von jemandem abhängig zu machen.«
Sie hörte ihm gar nicht mehr zu. »Dämonen«, wiederholte sie. »Davon hast du schon einmal gesprochen. Aber ich darf die Stimmen nicht als Dämonen ansehen, wenn ich mit ihnen leben muss. Es sind Menschen. Schlechte Menschen, gute Menschen, egoistische, großzügige, hilflose, mächtige – es sind Menschen. Nichts anderes. Hätte ich es mit Dämonen zu tun, wäre mein Leben wahrlich die Hölle.«
»Mein Gott.«
»Was?«
»Du passt die Situation bereits deinen Bedürfnissen an.«
»Ich versuche zu überleben, und ich werde überleben.«
»Davon bin ich überzeugt.« Er trank einen Schluck Kaffee. »Aber du hast mich bestimmt nicht hergebeten, damit ich dir zusehe, wie du mit deiner Gabe kämpfst. Du hast gesagt, dass du Antworten willst.«
»Ich denke in geordneten Bahnen. Deshalb befasse ich mich mit einem Problem nach dem
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