Pangea - Der achte Tag
spürte, als es schon zu spät war. Sariel selbst nahm kurz vorher nur eine unmerkliche Veränderung im Wald wahr. Eine plötzliche Stille. Sogar die Waldkalmare waren plötzlich verschwunden. Biao stieß noch einen kurzen alarmierten Laut aus, als er es merkte, dann waren sie schon da.
Es mussten an die dreißig Wald-Ori sein, die sich von allen Seiten auf Sariel stürzten, aus dem Blättergeflecht der Bäume heraus, aus dem Unterholz, von überall her. Die meisten von ihnen hängten sich sofort an Biaos gefährliche Fangtentakel und verhinderten, dass er Sariel helfen konnte. Im gleichen Augenblick hatten vier Wald-Ori Sariel gepackt, rissen ihn von Biao herunter und warfen sich mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn. Dabei fiel kein einziger Laut bis auf das angestrengte Grunzen der Angreifer. Ehe Biao die Gegner abschütteln konnte, hatten die vier Wald-Ori Sariel mit harten Pflanzenfasern bereits zu einem kompakten Paket zusammengeschnürt und schleiften ihn brutal über den Waldboden davon. Was mit Biao geschah, bekam Sariel nicht mehr mit, denn im nächsten Moment erhielt er einen Schlag auf den Kopf. Sariel hörte nur noch Liyas Schrei aus dem Nichts, dann wurde es schwarz um ihn herum und die Welt erstarb.
Irgendwann kehrte sein Bewusstsein zurück, langsam und zögerlich wie in ein ungeliebtes Zuhause, aber die Dunkelheit blieb. Sariel hörte stampfende Geräusche ringsum. Schritte und das Atmen von Menschen. Zwischendurch berührte ihn eine Hand, drückte und fühlte an ihm herum wie an einem toten Stück Fleisch vor dem Grillen. Sariel lag immer noch zusammengekrümmt und fest verschnürt auf einem harten Boden, und an den Schmerzen in seinen Gelenken merkte er endgültig, dass er noch lebte.
Noch.
Lautlos formte er mit den Lippen ein Wort. »Liya.«
»Keinen Ton! Du musst ganz still sein! Sie sind um dich herum. Lass sie noch nicht wissen, dass du wach bist. Himmel, bin ich froh, dass du aufgewacht bist!«
»Wer sind sie?«, dachte er.
»Wald-Ori, natürlich. Durch deine Bewusstlosigkeit konnte ich leider nur sehr wenig mitkriegen. Aber sie haben dich offenbar in ihr Lager verschleppt und überlegen gerade, was sie mit dir machen wollen.«
Nicht gerade rosige Aussichten. Sariel hielt immer noch die Augen geschlossen. Er konnte jetzt Rauch riechen und nahm an, dass er sich in einer Art Hütte befand.
»Was ist mit Biao?«, richtete er einen Gedanken an Liya.
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, sie haben ihm nichts getan. Die Wald-Ori sind Wilde, aber auch sie haben großen Respekt vor den Kalmaren.«
Das fand Sariel in seiner augenblicklichen Lage nur wenig tröstlich. Er versuchte vergeblich, sich vorsichtig in eine bequemere Position zu wälzen, und stöhnte unter den Schmerzen. Sofort hörte er aufgeregte Stimmen und zahllose Hände tasteten ihn ab. Überrascht bemerkte Sariel, dass die Stimmen weiblich waren. Auch die Hände waren keine Männerhände.
»Bleib ruhig!«, warnte ihn Liya erneut eindringlich. Aber die Frauen um ihn herum hatten bereits bemerkt, dass Sariel zu Bewusstsein kam. Er hatte auch keine Lust, noch länger »Toter Mann« zu spielen, da es nichts an seiner Lage änderte. Die Schmerzen durch die strammen Fesseln waren jetzt unerträglich, als würden ihm sämtliche Gliedmaßen gebrochen.
Wenn nichts weiter passierte, würde er ohnehin bald wieder bewusstlos sein. Oder tot.
Also schlug Sariel die Augen auf und blickte direkt in ein vor Schmutz und Ruß starrendes Gesicht, das ihn sehr neugierig musterte. Ein junges Gesicht. Große, wilde Augen und dichte, verfilzte und verdreckte Haare. Sariel erkannte das Entsetzen in den dunklen Augen, dann war das Gesicht auch schon verschwunden und er hörte einen hohen Schrei. Sofort Alarm in der niedrigen, verqualmten Hütte. Sariel sah Füße und Hände um sich herum. Aufgeregte Bewegung überall. Die Stimmen, die vorhin nur leise Beschwörungen gemurmelt hatten, schrien nun laut und riefen etwas in einer Sprache, die nur entfernt dem Mandarin der Ori glich, das er kannte. Immerhin verstand er, dass sie jemand riefen.
»Was immer auch passiert, ich bin die ganze Zeit bei dir!«, sagte Liya.
Sehr hilfreich, dachte Sariel, ein Mädchen, das irgendwo im Nichts zwischen Zeit und Raum gefangen ist. Dennoch freute er sich über die vertraute Stimme in seiner Nähe, auch wenn sie ihm nicht helfen konnte.
»Geh nicht weg«, murmelte er leise. »Geh nicht weg!«
»Ich geh nicht weg. Keine Angst, ich werde dich nicht verlassen.«
Licht
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