Pangea - Der achte Tag
ihm ein Felsbrocken ein. Im letzten Augenblick sprang Sariel beiseite, mit einem Reaktionsvermögen und einer Schnelligkeit, über die er früher nie verfügt hätte. Ein Zeichen, dass die Lehrträume offenbar doch noch wirkten. Trotzdem hatte ihn der Fels nur um Haaresbreite verfehlt. Er musste aufpassen.
So weit es ging, verkroch Sariel sich hinter dem schützenden Felsen. Doch für einen kurzen Moment hatte er den Schatten deutlicher sehen können und wusste nun, was sich da vor seinem Unterstand bewegte. Ein Oktopus. Ein gigantischer Oktopus! Die Sari hatten ihm von Landkalmaren berichtet. Auch in seinen Lehrträumen waren sie aufgetaucht, geheimnisvolle Wesen, die inzwischen seit Jahrmillionen die Erde beherrschten. Sariel hatte sie sich allerdings kleiner vorgestellt. Auf alle Fälle gehörten sie ins Meer oder in die Küche. Aber auf gar keinen Fall stampften sie in Elefantengröße durchs Gebirge.
Jetzt sah Sariel einen Tentakel. Und zwar nicht mehr nur einen Schatten. Dicht vor ihm, direkt an dem Felsen, hinter dem Sariel hockte, glitt der Tentakel vorbei und verbreitete einen strengen, tranigen Geruch. Der Tentakel tastete sich näher an Sariel heran, fast wie ein eigenständiges Tier, das eine Fährte aufgenommen hatte. Sariel zog sich noch weiter zurück, presste sich, so weit es nur ging, gegen die Felswand und hielt den Atem an.
Der Tentakel betastete den Felsen, schien daran zu wittern und zu schnüffeln. Dann, mit einer einzigen schnellen Bewegung, hob er den Stein hoch, als wäre er nichts weiter als ein Federball, und schleuderte ihn fort. Sariel hörte das Krachen, als der tonnenschwere Koloss in der Ferne aufschlug. Sariel schrie auf. Er hockte nun vollkommen ungeschützt und ausgeliefert vor dem Tentakel und erwartete, dass ihn in der nächsten Sekunde das gleiche Schicksal ereilte wie den Felsbrocken.
Aber der Tentakel blieb ruhig. Der Kalmar erschien vor Sariels Versteck und blickte ihn nur an, neugierig und fast ein bisschen überrascht. Seit langer Zeit dachte Sariel wieder an Kurkuma, den roten Kater aus einem früheren Leben. Kurkuma bekam manchmal diesen Blick, diesen unergründlichen, hypnotischen Katzenblick. Und weil der Kalmar ihn anblickte wie eine Katze, hatte Sariel schon viel weniger Angst.
»He!«, traute er sich sogar zu rufen. »Hallo!« Die Reaktion war erstaunlich. Der Kalmar wechselte die Farbe. Eben noch trug seine Haut ein einheitliches schmutziges Grüngrau, jetzt verfärbte sie sich plötzlich rosa. Rosa! Nicht gerade Sariels Lieblingsfarbe, aber auf der anderen Seite konnte er sich keine menschenfressende Bestie in Rosa vorstellen. Er deutete die Hautverfärbung also als gutes Zeichen, auch wenn er keinen blassen Schimmer hatte, wie es jetzt weitergehen sollte. Der Kalmar verharrte reglos vor dem Felsvorsprung und beobachtete Sariel wie eine seltene Pflanze.
Plötzlich hatte Sariel eine Idee. Wahnwitzig, unvorstellbar, aber die einzige, die ihm in den Sinn kam. Er war einem Lied gefolgt, das ihn zum Wasser führen sollte. Das Lied war abgebrochen und ein Riesenkalmar aufgetaucht. Kalmare waren Wasserwesen, jedenfalls für Sariel. Zumindest würden sie Wasser zum Leben brauchen, genauso wie er.
»Weißt du, wo Wasser ist?«, fragte er, auch wenn er kaum erwartete, dass der Kalmar ihn verstand. Tat er offenbar auch nicht.
»Wasser!«, wiederholte Sariel. »Wasser! Wasser!«
Er wusste nichts über Kalmare. Nicht dass sie seine Worte tatsächlich nicht verstanden. Dennoch erkannte der Oktopus vor ihm die Verzweiflung in seiner Stimme, jene besondere Verzweiflung eines Wesens, das bald verdursten wird.
Der Kalmar wandte sich gemächlich ab, drehte sich langsam um und glitt auf seinen sechs Schreittentakeln über das Geröll weiter in die enge Schlucht hinein, aus der er gekommen war.
Sariel zögerte nur einen kurzen Augenblick. Er hatte nicht mehr viel zu verlieren. Also konnte er auch genauso gut einem Kalmar folgen.
Liya durchsuchte Yuanfens Packtasche und fand jede Menge Kräuter und Salben darin, aber sie wusste nichts damit anzufangen. Kein einziges der Kräutersäckchen war beschriftet. Nur Yuanfen hatte ihre Anwendungen und Dosierungen gekannt. Aber Yuanfen war tot. Liyas Wunden juckten und brannten, eiterten und bluteten. Der feine Wüstenstaub tat ein Übriges, dass die Wunden sich mehr und mehr entzündeten.
Yuanfens Mörder hatte ihre Packtasche nicht angerührt, vermutlich, weil auch er nichts damit anzufangen wusste, dafür aber sämtliche
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