Panic
an Patrick und Emily. Ich weinte, fragte mich, ob Kevin meine Abwesenheit ausnutzen würde, um sie gegen mich aufzuhetzen. Wie hatte es nur so weit kommen können zwischen uns, fragte ich mich und musste mir eingestehen, dass ich nicht unschuldig war.
Wir hatten im selben Sommer geheiratet, in dem ich meinen Abschluss in Chemie und Informatik machte. Kevin war Publizist und arbeitete schon bei Krauss. Ich genoss mein neues Leben und stieg rasch auf in der jungen, innovativen Firma, bei der ich meinen ersten Job bekam. Computerprogramme zu schreiben war wie das Erkunden von Neuland; jedes Projekt kam mir vor wie ein Wald, der entdeckt werden wollte. Doch was noch wichtiger war, ich war glücklich in meinem neuen Leben, und als unser dritter Hochzeitstag kam, dachte ich, ich hätte die Jagd, die Große Kraft, meine Eltern und Mitchell ein für alle Mal hinter mir gelassen.
Wir kauften ein Stadthaus in der Back Bay. Samstags gingen wir zum Shoppen in die Newbury Street, aßen auswärts und sahen uns den neuesten Film im Kino an. Sonntags frühstückten wir spät und lasen dabei den
Globe
und die
Times
. Ganz zu Anfang gefiel sich Kevin dabei, vor unseren Freunden zu behaupten, ich sei eine Wilde aus Maine; er habe mich eingefangen und gezähmt. »Zivilisiert«, hatte ich ihn lächelnd korrigiert. Und wir hatten beide gelacht.
Wir verließen Boston nur selten, verbrachten hie und da eine Woche Ferien in Nantucket und Key West, meistens zusammen mit unseren Freunden aus der Stadt, mit dem Resultat, dass kein großer Unterschied bestand zu Boston.
Es gab allerdings Momente, üblicherweise bei Sonnenuntergang, in denen ich etwas abseits von den anderen am Wasser stand. Wenn dann die Wellen meine Knöchel umspülten, erfasste mich eine undefinierbare Sehnsucht nach größerer Einsamkeit, intensiverem Spüren. Ehe das Bedürfnis jedoch übergroß werden konnte, kam Kevin auf mich zu, reichte mir ein Glas und schlenderte mit mir zurück zu den anderen.
Patrick kam nach fünf Jahren zur Welt, Emily nach acht. Meine Kinder gaben mir das Gefühl, wenigstens mit der Zukunft in Verbindung zu stehen, und ich liebte sie dafür. Natürlich litt unsere Ehe unter dem üblichen Druck, der mit der Erziehung kleiner Kinder einhergeht, und zum Zeitpunkt, als mein Vater Selbstmord beging, waren wir in einen gewissen Trott verfallen, der aus Kindern, Arbeit und wöchentlichem Sex bestand.
So war ich vielleicht reif für die Träume, die nach dem Tod meines Vaters zu mir kamen. Meine Vorfahren glaubten, Träume seien Fenster in andere Welten, und die Tiere, die uns in Träumen begegneten, könnten uns die Zukunft vorhersagen oder uns auf Reisen schicken, vor denen wir uns scheuten.
Nachdem das Träumen begonnen und ich den Hirsch im Schnee verfolgt hatte, wurde ich zu Kevins Bestürzung immer unberechenbarer.
In diesem Winter und bis in den Frühling hinein stand ich mehrmals mitten in der Nacht auf, fuhr neunzig Minuten nach Maine und ging in der Dunkelheit in den Wald. Dann pflegte ich gegen den Wind in ein Dickicht zu kriechen, einem Hirsch in die Augen zu leuchten und mich an seinem Schnauben und an seiner Flucht zu freuen.
Ende April war der Wald schwer von Blütenpollen. Baumfrösche quakten mit ihren Sopranstimmchen im Chor. Und die Heideröschen am Feldrain hingen voller junger Triebe. Eines Nachts, im weichen Licht des Vollmonds, zog ich mich aus und lag bis zum Morgengrauen im Moschusbett eines Hirsches. Ich hörte, wie die Schreie der Streifenkauze die balzenden Truthähne störten. Die Puter durchstöberten mit wütendem Kollern die Morgendämmerung.
Als ich morgens nach Hause kam, vor Schmutz starrend, nach Tiermoschus stinkend, schlug ich Kevin vor, die Kinder in die Schule zu schicken und den Tag im Bett zu verbringen. Er riet mir dringend, einen Therapeuten aufzusuchen, und schlief nach dieser Nacht im Gästezimmer.
Neunzehn Monate nach dem Tod meines Vaters wurde mir seine Post zugesandt. Darunter war auch ein Brief, der die Öffnung des Metcalfe-Reviers ankündigte. Ich las den Brief ein Dutzend Mal, besonders die Passagen, die von der Abgelegenheit der Wälder schwärmten. Ich war seltsam angetan. Im Nachhinein glaube ich, dass mein Geist sich nach einem Rückzug in die chaotische Realität der Wildnis sehnte, diesen unbewussten, unbekannten Ort, wo alle Straßen enden und der Mensch beginnt; andernfalls würde ich den Verstand verlieren. Tags darauf, ohne Kevin ein Wort zu sagen, hob ich siebentausend Dollar von
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