Panik: Thriller (German Edition)
ihrer Haut, aber die Kälte brannte nicht mehr. Sie war jenseits des Schmerzes.
Schiller lag an derselben Stelle wie bei ihrer Ankunft. Sein Atem ging so regelmäßig und langsam wie der Wellenschlag des Ozeans. Er verströmte den Winterwind, und deshalb hatte Rilke keine Angst vor ihm. Warum hätte sie auch Angst vor ihrem eigenen Bruder haben sollen? Er hatte ihr nie etwas getan– im Gegenteil, er vergötterte sie.
Besser gesagt: Warum hätte sie Angst vor dem haben sollen, in das er sich verwandelte? Wenn sie wirklich aus einem bestimmten Grund auserwählt waren, würde ihnen dabei sicher nichts zustoßen. Man tötete ja auch nicht die Soldaten während der Ausbildung.
Rilke zog die Beine an die Brust. Die letzte Kerze war vor einer Weile ausgegangen– sie wusste nicht, wie lange das schon her war–, und sie konnte sich nicht dazu durchringen, eine neue anzuzünden. Überall lagen Pullover und andere Kleidungsstücke herum, die meisten gehörten Cal. Doch die wollte sie nicht anziehen. Was immer hier vor sich ging, gehörte vielleicht zu einer Prüfung. Und da durfte sie nicht schwach wirken.
So schwach wie die anderen. Ihre Schwäche drang wie eine Welle aus Wärme und Licht in ihren Kopf. Das war so jämmerlich, dass ihr schlecht wurde. Die Welt veränderte sich, unglaubliche Dinge geschahen, und sie hatten nichts Besseres zu tun, als eine geschlagene Stunde wie die kleinen Kinder herumzurennen und zu lachen. Sie hatten keine Ahnung und auch keinen Respekt vor dem, was aus ihnen geworden war. Dafür würden sie bezahlen. Dafür würden sie bestraft werden.
Ihre Augen schmerzten. Sie versuchte zu blinzeln, doch ihre Haut war zu kalt, und ihre Lider gehorchten ihr nicht mehr. Egal. Bald würde sie ihre Lider sowieso nicht mehr brauchen. Dann konnte sie ganz auf ihren Körper verzichten, und sie würde auch nicht mehr frieren. Schiller würde auch nicht mehr frieren, wenn er aus seinem Eiskokon erwachte. Deshalb hatte sie ihn auch hierbehalten, anstatt ihn zum Auftauen in die Sonne zu legen. Es war Teil seiner Prüfung, und den hatte er sicherlich bestanden.
Sie setzte sich auf, zitterte und dachte nach. Was war passiert, als Daisy vorhin hier gewesen war? Rilke erinnerte sich an die Kreatur, die sie gesehen hatten. Sie hatte die Welt überragt, ein Strudel der Macht. Ja, sie war schrecklich, so schrecklich wie der Tod, doch das lag an ihrer Reinheit. Sie war etwas Absolutes. Eine gute Kraft– nicht im Sinne einer künstlichen Moral, sondern weil sie alles Hässliche, Schmutzige, Unreine, Verfaulte, Kaputte hinfortspülen würde. Sie versprach Vergessen, ein wunderschönes, makelloses Nichts, das die ganze Welt verschlingen würde.
Und sie war dazu auserwählt, ihr zu helfen.
Wirklich?, fragte eine Stimme tief in ihrem Kopf. Bist du dir da sicher, Rilke? Ist es wirklich das Richtige?
Es war das Richtige. Es gab keine andere Erklärung. Die Menschheit hatte sich gegen sie und Schiller verschworen, genau wie die anderen. Sie hatten sie gejagt wie die Dorfbewohner einen Löwen oder einen Wolf, der ihre Schafe riss. Die Menschen hatten sich gegen sie gewandt, weil sie Angst hatten. Zu Recht, dachte sie und versuchte, ein Lächeln auf ihr gefrorenes Gesicht zu zaubern. Sie sollten auch Angst vor mir haben.
Die Zeit der Menschen war abgelaufen. Das war offensichtlich. Das war schon immer offensichtlich gewesen. Rilke verachtete die Kirche, und doch war ein Fünkchen Wahrheit in den Geschichten gewesen, die sie sich auf den ungepolsterten Bänken hatte anhören müssen. Sie hatten die Menschen davor gewarnt, ihren Platz auf dieser Erde als selbstverständlich zu betrachten. Diejenigen, die trotzdem dieser Ansicht waren, wurden grausam bestraft. Das war schon früher geschehen und würde jetzt wieder geschehen– eine Flut aus Feuer und Wind und Blut würde die Erde reinwaschen.
Und was hatten sie daraus gelernt? Nichts. Jeden Tag herrschten Krieg und Hunger und Krankheit. Jeden Tag wurde gemordet, aus Gier, Angst und Dummheit. Und noch schlimmere Dinge geschahen, Dinge, die man auch ihr angetan hatte und an die sie nie, nie mehr denken würde. Ja, die Menschheit wurde mit jedem Tag kränker, und dieses Ding war die Heilung.
Der Antichrist, dachte sie. Doch dieses Ding, dieser Mann im Sturm, war älter als alle Geschichten der Bibel. Es war so alt wie die Zeit. Woher willst du das wissen?, fragte die schwache Stimme in ihr, die immer noch zweifelte. Sie wusste es eben. Genauso wie sie begriffen hatte, dass
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