Papa
Klappern einer Tastatur zu hören. Vor den Fenstern, die er durch die offen stehenden Bürotüren sah, dehnte sich eine schwarze Leere, in der ein paar Lichtpunkte darauf hindeuteten, dass sich da draußen eine Welt befand.
Und darin stiefelte ein Irrer umher, mit einem Kind in seiner Gewalt. Und er, Robert, konnte nichts dagegen tun. Jetzt nicht mehr. Dieses Gefühl war noch dunkler als die Nacht vor den Fenstern. Es saugte ihm jegliche Kraft aus den Muskeln. Mit jedem Schritt schwankte der Boden mehr, und Robert ertappte sich, wie er sich ein paar Mal an der Wand festhielt, um nicht zu stolpern.
Eine Weile glaubte ein Teil von ihm, dass Zellinger hinter ihm herstürzen würde, um die Angelegenheit zurückzunehmen. Doch das war natürlich absurd.
Robert ging in sein Büro, schaltete das Licht ein, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. In seinem Kopf war ein Sturm ausgebrochen. Er hatte den Job nie gemocht, was also war sein Problem? Andererseits hätte eine Beförderung die Arbeit attraktiver gemacht. Außerdem – und das war das Ausschlaggebende – drängte ihn jede Faser, Ried zu finden und Maiks Mädchen zu retten. Welche Chance hatte sie, wenn ein Frischling wie Gröne diesen Fall übernahm?
Sollte er sich so einfach aus dem Spiel nehmen lassen?
Sein Blick fiel auf den Schreibtisch und das Flipchart dahinter. Alle ihre Informationen liefen hier zusammen.
Ein Blitz fuhr durch seinen Körper. Für einen winzigen Moment lag alles glasklar vor ihm. Er musste weitermachen. Es gab keine Alternative. Jemand, der den Fall jetzt übernehmen würde, müsste sich erst einarbeiten. Lilly hatte diese Zeit nicht. Seinen Job war Robert doch eh so gut wie los. Was hatte er also zu verlieren?
Er schaltete den PC an, um die letzten E-Mails abzurufen. Auf seinem Schreibtisch lagen die drei Polaroids, die sie bisher hatten, in der vorgesehenen Reihenfolge. Der Schmetterling, die Gehäutete und die Aufgeschlitzte. Daneben die Ausdrucke, die Emily Gäter von Rieds Mutter gemacht hatte. Das ertrinkende Mädchen, der Wolf, das Schaf, die Zahlen, der Mond und die Blüte. Die Rätsel würden früher oder später zu Lilly führen. Das war klar. Aber es musste eine Möglichkeit geben, Ried vorher aufzuspüren.
Robert starrte eine Weile auf all die Bilder. Für ihn ergab es keinen Sinn, dass dies hier etwas mit einem Triebtäter zu tun haben sollte. Viel zu überlegt war das Ganze.
Doch hier und jetzt war nicht der Moment, um darüber nachzudenken. Er holte sein Handy aus der Jackentasche und machte Fotos von ihren bisherigen Ergebnissen. Als er die Blüte im Display sah, stutzte er.
Er übertrug das Bild mit der Blüte auf den PC.
Mit einem Klick öffnete er Google, ging auf die Bildersuche und zog anschließend das Foto in die Suchleiste.
Es dauerte nicht lange, da spuckte ihm Google ein paar alternative Bilder aus.
Er positionierte den Mauszeiger über den gefundenen Link und klickte drauf. Es war eine Botanikseite. Roberts Herz klopfte anerkennend in seiner Brust. Das war die Lösung.
Die Blüte gehörte zu einer Staude, die man auch
Gute Nacht Blume
nannte und die bei einsetzender Dämmerung blühte.
Damit würde Lillys Zeit am 2. August mit Einsetzen der Dämmerung ablaufen. Also in zehn Tagen!
Da Robert keine Mails bekommen hatte, löschte er das Bild vom Computer, fuhr ihn runter und steckte das Handy ein. Danach verließ er das Büro und das Gebäude.
Als er im Auto saß, holte er das Handy wieder hervor. Er starrte es eine Weile an und wählte dann die Nummer von Dr. Emily Gäter. Es klingelte ein paar Mal in der Leitung, und gerade als er auflegen wollte, knackte es.
»Ja, Gäter?«
»Frau Gäter, hallo. Hier ist Kriminalkommissar Bendlin. Es tut mir leid, dass ich Sie so spät noch störe. Ich hätte eine kleine Bitte an Sie.«
Gäter schnalzte mit der Zunge und gähnte. »Ja?«
»Sollte in nächster Zeit eine weitere Leiche bei Ihnen eintreffen, die etwas mit den Polaroidfällen zu tun hat, würden Sie mich auf meinem Privathandy anrufen? Mein Diensthandy muss ausgetauscht werden, und wir können uns keine Verzögerungen leisten. Uns läuft die Zeit davon.«
»Ja, ja, meinetwegen.« Sie murmelte noch etwas Unverständliches und war dann weg.
Robert grinste. Jetzt konnten seine privaten Ermittlungen beginnen. Wenn er schon seinen Job verlieren sollte, dann wenigstens mit einer wirklich guten Begründung.
[home]
Kapitel 22
N ieselregen vernebelte Michelles Sicht auf das chinesische Restaurant, das
Weitere Kostenlose Bücher