Papillon
alles getrunken. Und in einer Stunde ist Wachablöse.
Ich stehe wie auf glühenden Kohlen, beobachte jede seiner Bewegungen. Nichts läßt darauf schließen, daß er betäubt wäre. Endlich beginnt er zu schwanken. Er setzt sich, nimmt das Gewehr zwischen die Beine. Der Kopf sinkt ihm auf die Brust. Meine Freunde und ein paar Kolumbier, die eingeweiht sind, verfolgen seine Reaktionen ebenso aufgeregt wie ich.
»Geh, die Schnur!« sage ich zu Ali.
Er bereitet sich vor, sie zu werfen. Da steht der Posten auf, läßt das Gewehr fallen, reckt sich und stampft mit den Beinen, als trete er auf der Stelle. Es sind noch achtzehn Minuten bis zur Ablöse. Ich rufe im Geist Gott um Hilfe an: Ich bitte dich, hilf mir noch dieses eine Mal! Ich flehe dich an, verlaß mich nicht! – Aber es ist zwecklos, wenn ein Atheist den Gott der Christen anruft, den er ohnehin fast nie begreift. »Da hast du’s!«
sagt Clousiot und kommt auf mich zu. »Nicht zu glauben, daß er nicht einschläft, der Idiot!«
Jetzt will der Posten sein Gewehr wieder aufheben. Aber in dem Augenblick, wo er sich bückt, schlägt er wie vom Blitz getroffen der Länge nach hin. Ali wirft den Haken, aber der Haken faßt nicht und fällt herunter. Er wirft ihn ein zweites Mal, jetzt bleibt er hängen. Er zieht daran, um sich zu überzeugen, daß er sitzt. Ich probiere ihn aus, und in dem Moment, wo ich den Fuß an die Mauer setze, um mich hochzuziehen und den Aufstieg zu beginnen, sagt Clousiot:
»Achtung, die Ablöse!«
Ich habe gerade noch Zeit, von der Mauer zurückzutreten, ohne gesehen zu werden. Von dem Instinkt getrieben, sich gegenseitig zu helfen und zu beschützen, umringen mich rasch zehn Kolumbier, wir gehen gemeinsam an der Mauer weiter und lassen das Seil hängen. Der neu antretende Posten sieht auf den ersten Blick den Haken und den Mann auf dem Boden. Überzeugt, daß jemand ausgebrochen ist, drückt er auf den Alarmknopf.
Der Schlafende wird mit einer Tragbahre abgeholt. Mehr als zwanzig Polizisten tauchen oben auf der Mauerpromenade auf. Don Gregorio läßt die Schnur hinaufziehen. Er hat den Haken in der Hand. Kurz darauf umzingeln Polizisten mit angelegten Gewehren den Hof. Wir werden aufgerufen. Jeder Aufgerufene muß in seine Zelle zurück. Überraschenderweise fehlt niemand. Wir werden alle in unseren Zellen eingesperrt.
Ein zweiter Appell. Zelle für Zelle wird durchgesiebt. Niemand ist verschwunden. Gegen drei Uhr läßt man uns wieder in den Hof. Wir hören, daß der Posten fest eingeschlafen und durch nichts zu wecken ist. Mein kolumbischer Komplize ist genauso niedergeschlagen wie ich. Er war so überzeugt, daß es gelingen würde!
Er flucht über die amerikanischen Erzeugnisse, denn das Schlafmittel stammt aus den USA.
»Was tun?«
»Von vorn anfangen,
hombre!
«
»Du glaubst, daß die Posten so dumm sind, noch einmal ›Kaffee auf französisch‹ zu verlangen?«
Trotz unseres Mißgeschicks muß ich lachen. Ich meinte natürlich: etwas Neues erfinden.
»Bestimmt, Mann!« sage ich.
Der Posten hat drei Tage und vier Nächte geschlafen. Als er endlich erwacht, behauptet er natürlich, daß kein anderer als ich ihn mit dem »Kaffee auf französisch« eingeschläfert hätte. Don Gregorio läßt mich rufen und konfrontiert mich mit ihm. Der Chef der Wache will mir mit dem Säbel einen Hieb versetzen. Ich springe zur Seite und provoziere ihn auch noch absichtlich. Prompt hebt er den Säbel zum zweitenmal. Don Gregorio tritt dazwischen, der Säbelhieb trifft mit voller Wucht seine Schulter, und er bricht zusammen.
Schlüsselbeinbruch. Er brüllt derart auf, daß sich der Offizier nur noch mit ihm beschäftigt. Er richtet den Direktor auf. Don Gregorio ruft um Hilfe. Aus dem Büro nebenan kommen die Zivilangestellten gelaufen. Der Offizier, zwei Polizisten und der Posten, den ich eingeschläfert habe, schlagen sich mit den zehn Zivilisten, die die Partei des Direktors ergreifen. In dieser »Tangana« werden mehrere leicht verwundet. Der einzige, der nichts abbekommt, bin ich. Es geht nicht mehr um mich, sondern um den Direktor und den Offizier. Der Direktor wird ins Spital gebracht. Sein Stellvertreter führt mich in den Hof zurück.
»Du kommst später dran, Franzose!«
Am nächsten Tag läßt mich der Direktor, der mit eingegipster Schulter dasitzt, eine gegen den Offizier gerichtete Erklärung unterschreiben. Mit Vergnügen erkläre ich alles, was man von mir will. Die Sache mit dem Schlafmittel ist vollkommen vergessen,
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