Papillon
seinen Freunden das Gesicht wahren kann. Also sage ich: »Nett von dir, daß du aufgestanden bist, um mit mir zu reden …«
»Ich wußte nicht, daß Galgani dein Freund ist. Ich glaubte, er sei am Abkratzen. Du verstehst, Papillon wenn man abgelaust ist, muß man sich den nötigen Kies verschaffen, um ausbrechen zu, können.«
»Ja, das ist ganz normal. Du hast das Recht, um dein Leben zu kämpfen, Mokrane. Aber das hier ist geweihter Boden, verstehst du?«
Er streckt mir die Hand hin. Ich drücke sie.
Puh! Da bin ich ja noch gut davongekommen, denn wenn ich den Kerl getötet hätte, hätte ich morgen nicht mitfahren dürfen. Erst später erkannte ich, daß ich einen Fehler begangen hatte.
Galgani kommt mit mir. »Erzähl niemandem von dem Vorfall«, sage ich. »Ich habe keine Lust, mich von Papa Dega beschimpfen zu lassen.« Dann versuche ich ihn zu überreden, den Stöpsel zurückzunehmen.
»Morgen, vor der Abfahrt«, sagt er. Aber den nächsten Tag hält er sich so gut versteckt, daß ich mich mit zwei Stöpseln einschiffen muß.
In dieser Nacht redet keiner von uns elf in der Zelle ein Wort. Jeder ist so oder so mit dem Gedanken beschäftigt, daß es die letzten Stunden sind, die er auf französischem Boden verbringt. Jeder von uns leidet darunter, Frankreich für immer verlassen und gegen ein unbekanntes Land, ein unbekanntes Schicksal vertauschen zu müssen. Auch Dega ist stumm. Er sitzt an meiner Seite neben der Gittertür, die auf den Gang geht und heute ein bißchen mehr Luft hereinläßt als sonst. Ich bin richtiggehend verstört. Die Berichte über das, was uns erwartet, sind so widerspruchsvoll, daß ich nicht weiß, ob ich froh, traurig oder verzweifelt sein soll.
Die Männer um mich herum stammen alle aus dem Verbrechermilieu. Nur der kleine Korse, der im Bagno geboren wurde, gehört eigentlich nicht dazu. Sie befinden sich alle in einem gleichsam amorphen Zustand.
Der schwere, gewichtige Augenblick verschließt ihnen den Mund. Der Rauch unserer Zigaretten zieht sich wie eine Wolke auf den Gang hinaus, und will man verhindern, daß einen die Augen brennen, muß man sich unterhalb dieser Rauchwolke hinkauern. Keiner kann schlafen außer Andre« Baillard, der schon einmal dem Tod ins Auge gesehen hat. Für ihn kann es nur noch ein unerwartetes Paradies geben.
Vor meinen Augen rollt der Film meines Lebens ab: meine Kindheit im Kreise einer liebenden, edelgesinnten Familie, mit angemessener Erziehung und guten Manieren, die Wiesen voller Blumen… die rieselnden Bäche… der Geschmack der Nüsse, Pfirsiche und Pflaumen, die in unserem Garten reichlich reiften … der Duft der Mimosen, die im Frühjahr vor unserer Tür blühten … unser Haus von außen und innen, mit den Meinen darin… alles das zieht in rascher Folge an meinem Geist vorüber. Die liebevolle Stimme meiner Mutter, dann die meines Vaters, die immer sanft, immer zärtlich klang, das Gebell unserer Jagdhündin Clara, das mich zum Spiel in den Garten rief, und die kleinen Mädchen und Buben, Gefährten der schönsten Augenblicke meines Lebens. Diese farbigen Laterna-magica-Bilder, die mir meine Erinnerung unwiderstehlich vorgaukelt, erfüllen meine Nacht vor dem Sprung ins große Unbekannte mit wohlig besänftigenden Empfindungen.
Es wird Zeit, Bilanz zu machen. Also: Ich bin sechsundzwanzig, fühle mich ausgezeichnet, trage fünftausendsechshundert Franc an eigenem Geld in meinem Bauch, dazu fünfundzwanzigtausend von Galgani. Dega, neben mir, hat zehntausend. Ich werde somit über vierzigtausend Franc verfügen können, denn wenn Galgani
hier
nicht fähig ist, sein Geld selbst zu schützen, wird er es an Bord des Schiffes und drüben in Guayana noch weniger sein. Er weiß das, und darum ist er ja auch nicht zu mir gekommen, seinen Stöpsel zu holen. Ich kann also über diese Summe verfügen und Galgani mitnehmen. Er soll etwas davon haben, schließlich ist es sein Geld, nicht meines. Ich sorge damit für sein Wohl, profitiere aber selbst auch dabei. Vierzigtausend Franc sind viel Geld, damit kann ich mir leicht Komplizen kaufen, Sträflinge, Freigelassene, Aufseher.
Die Rechnung scheint aufzugehen. Sobald ich angekommen bin, muß ich in Gesellschaft von Dega und Galgani fliehen. Das ist das einzige Ziel, das es anzustreben gilt. Ich berühre das Skalpell, freue mich, die Kälte seines Stahlgriffs zu spüren. Eine so gefürchtete Waffe bei mir zu führen gibt mir Sicherheit. Wie nützlich sie sein kann, hat sich bereits bei dem
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