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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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er weg, hielt sich mit den Augen an der grünen EKG-Linie fest und wiederholte: »Heute Abend. Wo denn?«
    »Ich bin einfach wieder hier«, sagte ich. »Ich brauche jetzt eine Pause von der Klinik, ich fahre den Hund füttern … aber ich komme wieder, dann kannst du mir zeigen, wo es abends den besten Kaffee gibt.«
    »Lach ruhig über mich«, sagte Thorsten. »Ich trinke wirklich abends Kaffee. Hält einen vom Schlafen ab. Schlafen ist nicht meine Lieblingsbeschäftigung. Zu viele Träume.«
    »Seit fünf Jahren.«
    »Vielleicht.«
    Womöglich, dachte ich, als ich ins Auto stieg, ist es Thorsten, der eigentlich erzählen will. Der jemanden zum Erzählen braucht. Er sagt nur, er will nicht über seine Kinder reden, weil jeder von ihm erwartet, dass er das sagt.
    Und auf einmal hatte ich eine absurde Vision: Thorsten, David und ich gingen am Meer entlang, ausgerechnet am Meer! Ein Bild wie in einer Versicherungsreklame. Und weil es ein Versicherungsreklamebild war, waren Thorsten und ich ein Paar. David saß, trotz der Reklame, tatsächlich im Rollstuhl, das Abendlicht spielte in seinen rotblonden Haaren, und der Rollstuhl war viel mehr ein Königsthron, der Thron von Prinz Goldhaar. Und Thorsten hätte also wieder ein Kind, eines, das überlebt hatte, und ich würde wieder lieben, nach so langer Zeit.
    Ich schüttelte die Vision ab, sie schmeckte zu sehr nach künstlichem Vanillepudding.
    Natürlich würde es niemals so sein.
    Ich fand mich auf der Autobahn in der verkehrten Richtung wieder. Kurz vor der Warnowtalbrücke, drei Kilometer nach der Ausfahrt Rostock Südstadt, hielt ich auf dem Seitenstreifen und stieg aus. Ich kletterte wieder über die Leitplanke und den Hügel hinauf, setzte mich zwischen die Büsche ins junge Frühlingsgras und wollte eigentlich eine Weile gar nichts tun als dazusitzen, ich wusste nicht einmal, weshalb ich hergekommen war. Vielleicht, weil es ein wenig so war, als könnte ich hier mit David sprechen, ihn spüren – den David, der er gewesen war, ehe er ins Koma fiel.
    Ich wünschte, du könntest mir sagen, ob das mit heute Abend richtig ist, wollte ich zu ihm sagen. Ich wünschte, du könntest mir erklären, was ich in Thorsten Samstag sehe. Einen Lückenfüller, einen Statt-Claas? Einen Retter, einen Heiligen, der rund um die Uhr bei seinen Patienten sitzt und der dich, aufgrund seiner Heiligkeit, irgendwann aufwecken wird? Einen Verbündeten im Kampf gegen den Schmerz? Einen Fremden, für den ich eine neue Lovis sein kann, weil er die alte nicht kannte, eine bessere Lovis, eine Lovis, die versucht, die Welt zu ändern?
    Wenn du aufwachst, David, morgen, übermorgen, in einer Woche, wenn du aufwachst und in dieses Gesicht mit den ernsten, verschiedenfarbigen Augen blickst, das sich über dein Bett beugt – was wirst du denken?
    Und dann klingelte mein Telefon.
    Ich kannte die Nummer nicht, ich erwog, nicht abzuheben, doch die Neugier siegte.
    Und aus dem Telefon kam ein Schwall von Worten.
    »Frau Berek? Sind Sie Frau Berek? Ich sollte eigentlich gar nicht Sie anrufen, sondern die Polizei, aber mit der Polizei hab ich’s nicht so, wer ruft schon gerne die Polizei an, oder, und dann hab ich Ihre Nummer doch rausgefunden, das war gar nicht so einfach, übers Radio war das, aber das ist ja jetzt schon was her, ich war im Urlaub, gleich hinterher, deshalb, war gar nicht da bis vorgestern, und da haben sie mir erzählt, wie jemand nachgefragt hätte, das war einer von der Polizei, aber die konnten dem natürlich nichts sagen, weil da ja ich am Schalter stand, das Auto war ziemlich groß, und der Junge hatte rote Haare, eher noch golden, über so einen wollte die Polizei was wissen, haben meine Kollegen erzählt, und die Zeit hat auch gestimmt, am Abend war das, kurz vor der Dämmerung …«
    »Moment«, sagte ich in den Redeschwall hinein und merkte, dass meine Stimme komisch klang, wie unter Wasser. Mir war auf einmal heiß. »Mit wem spreche ich überhaupt?«
    »Das ist doch unwichtig«, sagte der Redeschwall, »Namen, egal, ich will da auch nicht reingezogen werden, ich wollte Ihnen nur sagen, wie’s war, und so war’s, nur damit Sie’s wissen, die sind ausgestiegen, und dann sind sie rein, oder eigentlich nur der Junge, der andere hat getankt, und der Junge ist rein und hat eine Tafel Schokolade gekauft, ich glaube, es war Vollmilch, und ich denk noch, die Haare, wie ein Goldhelm, schön bei dem Abendlicht, so ein hübscher Junge, war vielleicht zehn oder so, hatte

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