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Paradies für alle: Roman (German Edition)

Paradies für alle: Roman (German Edition)

Titel: Paradies für alle: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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konnte. Ich war immer noch wütend auf Claas, auf seine Ruhe, seine Vernunft, die Tatsache, dass er David aufgegeben hatte. Aber ich konnte nicht glauben, dass Claas ein Mörder war.
    »Ich glaube, dass er mir etwas Schreckliches verschwiegen hat«, sagte ich. »Die ganze Zeit über.«
    Thorsten nickte.
    »Irgendetwas … ist furchtbar schiefgegangen«, fuhr ich leise fort. »Vielleicht wollten sie weg, ich weiß nicht, wohin … glaubst du, sie wollten weg … von mir?«
    Ich merkte, wie der Whiskey in mein Blut stieg und durch meine Augen einen Weg ins Freie suchte. Thorsten Samstag fand ein Papiertaschentuch in seiner Tasche und schob es zu mir herüber.
    »Ich weine nicht«, sagte ich.
    »Natürlich nicht«, sagte er. »Nein. Ich glaube nicht, dass sie von dir wegwollten.«
    »Danke«, sagte ich, das Papiertaschentuch zwischen den Fingern. Ich wischte die Tränen nicht damit ab, ich zerknüllte es, weil ich irgendetwas zerknüllen musste. »Danke. Aber du glaubst es doch.«
    »Und wenn sie etwas ganz anderes wollten, Lovis? Etwas, das du nicht wissen durftest, weil es, sagen wir, eine Überraschung war? Und dann ist etwas passiert, sie haben sich gestritten, oder David hatte eine seiner merkwürdigen Ideen. Du hast von diesen Projekten erzählt, die er hatte. Was, wenn eines der Projekte darin bestand, Pflanzen an Autobahnrändern zu sammeln oder Fotos von Leitplanken zu machen oder …« Er hob die Hände. »Sonst was.«
    »Und Claas hat mir die Sache nie erzählt, weil er weiß, dass er schuld an allem ist.«
    »Zum Beispiel.«
    Die Kneipe um mich schwankte ein wenig, und ich war froh, dass sie schwankte, denn jetzt hatte ich es geschafft, mich zu betrinken. Sollte die ganze Erde schwanken, sollte sie in sich zusammenstürzen, ich konnte sie nicht brauchen, keine Erde, auf der es Autobahnen gab. Aber dann fiel mir etwas ein.
    »Warte«, sagte ich, »wo war Claas, als David überfahren wurde? Wo waren er und sein Auto?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Thorsten. »Ich weiß nur, dass es noch eine Lösung gibt. Eine andere.«
    »Und die wäre?«
    »Sehr einfach. Es war gar nicht Claas.«
    Ich trank den Rest meines Whiskeys und sah den Tischen und Stühlen eine Weile beim Schwanken zu. »Thorsten? Erzähl mir von deiner Familie.«
    Er lachte. »Das ist eine sehr kurze Geschichte. Ich war nie genug für sie da, wir haben uns getrennt, sie hatten einen Unfall.«
    »Was? Ihr … ihr habt euch … vor dem Unfall … getrennt?«
    Thorsten nickte. »Ungefähr zwei Monate vorher. Deshalb waren sie auf der Autobahn. Sie hat die Kinder zu mir gebracht, zu Besuch. Sie wären nicht auf der Autobahn gewesen, wenn wir uns nicht getrennt hätten.«
    »Hast du sie geliebt? Deine Frau? Was war sie? Keine Ärztin?«
    »Sie war Kindergärtnerin. Es hat nie ganz gepasst, hat sie gesagt, wir hätten diese Entscheidung viel früher treffen sollen …« Er lächelte mich an, mit dem blauen Auge, nicht froh. »Genau das, was du gesagt hast. Ja. Ich hatte sie sehr gern.« Er stand auf, um sich eine dritte Tasse Kaffee zu holen, und ich saß da und ließ meine Gedanken durch das gedämpfte Licht schwimmen. Drei Tassen Kaffee.
    Half es für immer gegen den Schlaf? Gegen die Träume? Gegen die Schuld?
    Wie viele Zigaretten rauchte Claas jetzt am Tag? Rauchte er, statt zu schlafen?
    Sah er David vor sich, wenn er die Augen schloss, den Helm seines goldenen Haars, seine ernsten meergrünen Augen, die ernste, abstruse Fragen stellten, die Handvoll Sommersprossen in seinem Kindergesicht?
    »Was ist mit deinen Eltern?«, fragte ich, ganz plötzlich.
    »Wir reden nicht. Nicht seit dem Unfall.«
    »Du redest nicht, oder sie reden nicht?«
    Er zuckte die Schultern. »Im Nachhinein ist es immer schwer zu sagen, wer damit angefangen hat, etwas nicht mehr zu tun …«
    »Sind sie … haben sie sich … sind sie noch verheiratet?«
    Er nickte. »Ich denke.«
    »Meine auch«, sagte ich. »Wie haben sie das nur gemacht, Thorsten?«
    »Andere Generation«, sagte er. Und, nach einer Weile: »Redest du viel mit deinen Eltern?«
    »Nein«, sagte ich. »Eigentlich fast gar nicht. An Weihnachten telefonieren wir. Sie fragen immer, ob wir in der Kirche waren … Ich sage ja, aber das stimmt natürlich nicht …«
    Thorsten schwieg sehr lange. Und schließlich, als ich schon dachte, er hätte unser Gespräch über seinen eigenen Gedanken vergessen, sagte er: »Vielleicht sind wir die Generation der Trennung. Wir trennen uns von allem. Von der Kirche,

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