Paradies für alle: Roman (German Edition)
zum Glück nur geringfügig heller wurde. Der hintere Raum der Kneipe, in dem der Tisch stand, besaß keine Fenster, durch die die Resthelligkeit des Frühlingstages hätte hereinsickern können, und auch das war gut so. Denn draußen war genau die Stunde, die ich nicht mochte: Dämmerstunde. Die Stunde der Romantik und der Verzweiflung, die Stunde des Wachträumers und des Folterers, die Stunde, in der auf Autobahnen Kinder überfahren werden.
»Und was, glaubst du, ist geschehen?«, fragte Thorsten.
Ich hatte den ganzen Weg von der Klinik hierher geredet, ich hatte ihm erzählt, wie ich noch einmal an den Unfallort gefahren war und wie das Telefon geklingelt hatte und was gesagt worden war, von einer anonymen Tankstellenangestellten, die ich vielleicht finden konnte, wenn ich mich ein wenig anstrengte, die Anzahl der Tankstellen zwischen Stralsund und Rostock ist begrenzt …
Ich hatte geredet und geredet, und das Einzige, worüber ich nicht geredet hatte, war, was ich glaubte oder was ich fühlte. Die Tatsache, dass Claas mit David auf der Autobahn gewesen war, war zu groß, um in ihrem Schatten noch irgendetwas zu fühlen oder zu glauben.
»Ich … ich glaube«, sagte ich leise, »ich brauche dringend Alkohol.«
Thorsten verschwand in Richtung Theke und kehrte mit zwei Tassen Kaffee zurück.
»Ich wollte eigentlich keinen Kaffee«, sagte ich vorsichtig.
»Ich weiß«, sagte Thorsten, stellte die Tassen ab, ging zurück zur Theke und kehrte mit einem Glas wieder. »Whiskey?«
»Von mir aus auch Terpentin, Hauptsache Alkohol«, sagte ich, was sicherlich kein Kompliment für den Whiskey war. »Und die beiden Tassen Kaffee …«
»Sind meine«, sagte Thorsten und blies in die erste.
Ich schüttelte den Kopf und kam mir dumm vor mit meinem Whiskey, ein Glas Whiskey hilft bei einer vermasselten Klausur im Studium, bei Teenagerliebeskummer, aber wie lächerlich erschien mir das im Vergleich zu dem, was auf der Autobahn geschehen war.
»Claas raucht wieder«, sagte ich, wie zur Entschuldigung, als ich den Whiskey hinunterkippte, möglichst rasch, weil ich keinen Whiskey mochte.
»Claas«, wiederholte Thorsten.
»Claas ist weg«, sagte ich. »Gegangen. Für immer, denke ich.«
Thorsten trank Kaffee und sagte nichts.
»Wir hätten diese Entscheidung viel früher treffen sollen«, fuhr ich fort. »Es hat nie so ganz gepasst … Er war eigentlich auch nie da, jedenfalls nicht in der letzten Zeit. Ich dachte, wir hätten eine gemeinsame Ebene … das Haus, die Schafe, Spaziergänge …« Eigentlich, dachte ich, war ich es gewesen, die keine Zeit mehr gehabt hatte für diese Dinge, aber ich schob den Gedanken beiseite.
»Und wir hatten David als gemeinsame Ebene … vor allem natürlich David. Und jetzt … wenn es wirklich Claas war, an der Tankstelle … das würde ja bedeuten …« Ich stand auf, das leere Glas in der Hand. Ich war nicht betrunken. Ich wollte betrunken sein, um meinen Satz zu beenden. Thorsten trank die zweite Tasse Kaffee, als ich mit einem neu gefüllten Glas von der Theke zurückkam.
»Das würde bedeuten, dass Claas die ganze Zeit über wusste, was passiert ist«, sagte ich, ohne Thorsten anzusehen. »Und dass er David von der Schule abgeholt hat. Was erklärt, dass es David nicht komisch vorkam. Ich dachte sowieso nicht, dass er zu einem Fremden ins Auto steigen würde. Aber warum ist David dann die Straße vor der Schule entlanggegangen? Die Mutter seines Freundes hat ihn dort gesehen … Moment … Claas hat mir erzählt, sie hätte das gesagt … Es muss also gar nicht stimmen.«
»David steigt also zu seinem Vater ins Auto«, sagte Thorsten, »sie fahren los, halten bei einer Tankstelle an, David kauft Schokolade, Claas tankt. Sie fahren weiter. Und dann kommt der Punkt, an dem David aus irgendeinem Grund aussteigt.«
»Oder zum Aussteigen gezwungen wird.«
»Lovis«, sagte Thorsten und beugte sich über den Tisch, über die beiden Kaffeetassen, um mich anzusehen. Aber nur das blaue Auge sah mich an, das braune blickte durch mich hindurch in eine alternative Realität – vielleicht eine Realität, in der seine Familie nie einen Unfall gehabt hatte.
»Lovis«, wiederholte er, »glaubst du im Ernst, dass dein Mann versucht hat, euren Sohn umzubringen?«
»Nein«, sagte ich reflexartig und trank noch einen Schluck Whiskey. Ich lauschte dem Nein nach und merkte, dass es nicht reflexartig gewesen war. Es stimmte. Ich glaubte es nicht. Es war nichts, was man glauben
Weitere Kostenlose Bücher