Paradies für alle: Roman (German Edition)
von unseren Eltern, voneinander, von unseren Kindern …«
»Aber dann bleibt nichts mehr übrig, woran wir uns festhalten können«, sagte ich leise.
»Nein«, sagte Thorsten.
Irgendwann war der dritte Kaffee getrunken, wir sprachen nicht mehr viel, irgendwann war der Abend zu spät, irgendwann standen wir vor der Kneipe in der dunklen Straße. Der Hund drückte sich gegen meine Beine, vielleicht, um mich an seine Existenz zu erinnern.
»Wenn man eine zweite Chance hätte«, sagte Thorsten, »noch einmal zu lieben. Noch einmal alles ganz anders zu machen.«
»Ja«, sagte ich.
Und dann gingen wir auseinander, er nach Hause und ich zur Klinik zurück, gingen jeder in unsere kleine, private Hölle zurück. Zusammen, dachte ich, hätten wir vielleicht eine Chance. Aber vielleicht war es dafür zu spät in diesem Leben. Ich schlief in einem grünen Kittel, mit Mundschutz, neben Davids Bett, meine Hand in ihrem Einmalhandschuh in seiner.
Das Paradies, Davids Paradies, war sehr weit weg und sehr notwendig, ein Paradies ohne Trennungen und ohne Mauern. Ich träumte davon, wie ich es eines Tage erschaffen hatte, für ihn und für mich und für Thorsten Samstag. Und auch für Claas.
Am nächsten Tag fuhr ich nach Hause und setzte mich in mein Atelier vor das angefangene Triptychon. David hatte noch immer nicht aufgehört zu fiebern. Ich malte dem Fratzengesicht meiner Göttergestalt einen grünen Mundschutz und eine EKG-Linie in die Augen. Lotta hatte gesagt, die Gestalten links und rechts wären sie und ich, aber ich wollte nicht auf dem Bild sein, die Gestalten waren neutral, sie waren gar niemand. Ich malte der auf der linken Seite des Gottes ein blaues und ein braunes Auge und übermalte es wieder, schwarz, die Gestalt war blind, ein blinder heiliger Geist. Meine zeichnende Hand gab ihr einen Briefumschlag und einen wirren Bart. Vielleicht war es ein alter Mann, der im Wald lebte. Im Hintergrund des Bildes tauchte ein klobiges, dunkelgraues Auto auf, bedrohlich, ein Leichenwagen. Die rechte Gestalt hatte einen Schatten um den Hals, ich sah es genau, es war ein Strick, und ich gab ihm das Aussehen eines wirklichen Stricks, das Gesicht dieser Gestalt war seltsam bläulich verfärbt, der Blick ins Jenseits gekehrt. Gott, der Dämonengott in der Mitte des Bildes, hielt das Ende des Stricks zwischen den Reißzähnen. Eine Autobahn teilte seinen Körper in zwei Hälften, und jetzt hielt er ein Telefon in der einen Hand. Eine Tasse in der anderen: Whiskey, Kaffee, ein Blutopfer? Ich wusste es nicht. Ich wusste nicht, was ich malte, ich ließ es geschehen, meine Hände erschufen und zerstörten in einem irren Taumel Dinge und Welten, und ich sah ihnen dabei zu.
Die blinde Gestalt trug ein Neugeborenes auf dem Arm und hatte jetzt wieder die Flügel des Heiligen Geists, und zu ihren Füßen wuchsen Bohnen und Erbsen, an Stöcke gebunden: ein Gemüsegarten.
In der Ferne sah man hinter den drei Figuren das Meer, vielleicht von einem fünften Stock aus.
Und über dem Himmel zwischen ihren Köpfen war, flugzeuggleich, ein Kinderrollstuhl unterwegs, der einen weißen Kondensstreifen hinterließ.
Es gab nichts Abstraktes auf diesem Bild. Kein einziges graues Kästchen. Lovis Berek, dachte ich bitter, lernt nach über vierzig Jahren, die Realität endlich hinzunehmen.
Als meine Hände erschöpft waren und vor meinen Augen die Farben tanzten, verließ ich das Atelier und ging nach unten, um die Galerie anzurufen, in der ich ausstellte. Sie suchten eine neue Reinigungskraft, und ich sagte, ich wüsste jemanden. Dann hakte ich auf der Liste, die ich gemacht hatte – denn neuerdings machte ich eine Menge Listen –, Lottas Mutter ab.
Ich telefonierte auch mit der Behindertenwerkstatt, die ein Café in der Stadt betrieb, in dem Leute arbeiteten, die nicht behindert, sondern grenzwertig intelligent waren, und sprach lange mit jemandem dort wegen René. Theoretisch, sagten sie mir, sei alles möglich. Ich sollte vorbeikommen, man müsse sich persönlich kennenlernen und weitersehen, und natürlich müsse ein Haufen Papierkram erledigt werden. Ich machte eine Liste der Ämter, zu denen ich gehen musste. Falls René überhaupt mit meiner Idee einverstanden war. Ich machte eine Liste an Gründen, aus denen er dafür, und eine andere Liste an Gründen, aus denen er dagegen sein könnte.
Ich starrte lange den Namen Celia auf der anderen Liste an. Vielleicht, dachte ich, kann ich Celia auch in dem Café unterbringen, wenn ich sie
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