Paradies für alle: Roman (German Edition)
nur um die Mitte herum ein bisschen pummelig, so dass das Gummi der Trainingshose spannte. »Ich muss los«, murmelte sie. »Nach Hause.«
Sie ging an mir vorbei, ein wenig torkelnd, als wäre sie betrunken, aber ich glaube, sie war nur wirklich, wirklich müde.
»Sind die Kühe eigentlich immer hier?«, fragte ich. »In diesen … Käfigen?«
Die Tochter der Marie nickte. »Manchmal tun die mir leid«, sagte sie, und dann stieß sie die schwere Stalltür auf und war fort. Ich wartete einen Moment darauf, dass sie noch einmal zurückkam und mich fragte, was ich überhaupt hier tat, aber sie kam nicht.
Da verließ auch ich den Stall und hoffte, dass die Tür zu schwer für den Hund war, um sie mit der Nase aufzustoßen für den Fall, dass er aufwachte.
Falls Sie das nicht wissen: Hunde sind dumm genug, zurück nach Hause zu laufen, auch wenn zu Hause ein Gefängnis für Engel ist.
Ich weiß nicht, wie lange ich brauchte, um den Hund über den Hügel und in den Stall zu tragen und wieder zurückzugehen. Ich rannte nicht, ich gebe das zu, ich ging, denn ich war ziemlich KO vom Tragen des Hundes. Vielleicht war es insgesamt eine halbe Stunde. Vielleicht auch eher eine ganze.
Tielows Haus war dunkel.
Ich wartete einen Moment vor dem Tor, dann kletterte ich hinüber und schlich zur Tür des Zwingers. Sie war zu, verschlossen mit dem Zahlenschloss.
Der Zwinger war leer.
Der Mond hatte sich ein paar Wolken vors Gesicht gezogen, und ich leuchtete mit meiner Taschenlampe durch das Gitter. Nein, der Zwinger war nicht leer. Lotta hockte ganz hinten in der Ecke auf dem Boden und war kein Engel mehr. Das Haar hing ihr zerwühlt ins Gesicht, und ihr eines Auge war zugeschwollen.
Ich ruckelte an dem Zahlenschloss.
»Hab ich versucht«, flüsterte Lotta ein bisschen heiser. »Ging nicht.«
Sie war aber wohl zu nervös gewesen, denn es ging doch. Das Schloss sprang auf, und ich öffnete die Tür, so leise ich konnte. »Es ging nicht schneller«, sagte ich.
»Nee«, sagte Lotta.
Als ich sie auf die Beine zog, merkte ich, dass sie zitterte. Ich führte sie aus dem Zwinger und half ihr über das Tor. In Tielows Haus blieb alles still. »Komm«, sagte ich, »wir müssen zu dem Bauernhof vorm Wald. Da ist der Hund jetzt.«
Wir gingen schweigend den Weg entlang, bis wir den Hügel zwischen Tielow und uns gebracht hatten.
»War er noch mal da?«, fragte ich.
»Nee«, sagte Lotta und sah weg. »Doch«, sagte sie dann.
»Hat er dir was getan?«
»Nee«, sagte Lotta.
»Bist du sicher?«, fragte ich.
»Er hat nur geguckt«, sagte Lotta. »Da gestanden und geguckt, durch das Gitter. Ganz lange. Irgendwann ist er wieder rein.«
»Sonst war nichts?«
»Nee.«
»Du läufst komisch.«
Lotta sah an sich hinunter. »Meine Hose ist ganz nass«, sagte sie. »Ich glaube, es gab kein Klo in dem Zwinger.« Sie zögerte. »Ich glaube, ich hatte Angst.«
»Zieh die blöde Hose einfach aus«, sagte ich. »Ist ja Nacht, da sieht dich keiner. Deine Jacke ist dann eben ein Kleid.«
Wir rollten Lottas Hose und Unterhose zusammen und nahmen sie mit, und etwas später stand Lotta in ihrem Jackenkleid zwischen den Gittern, hinter denen die Kühe mit ihren leeren Augen ins Nichts starrten. Der Hund schlief noch immer.
»Schau dir das an!«, sagte ich und zeigte auf die Kühe. »Die sind nie draußen, oder? Hast du die schon mal auf einer Weide gesehen?«
»Nee«, sagte Lotta.
Sie streckte ihre schmale Hand durch das vorderste Gitter und streichelte einer Kuh über die Schnauze, und die Kuh leckte mit ihrer riesigen rosa Zunge an Lottas Arm.
Ich glaube, sie verstanden sich gut, weil sie beide wussten, was es hieß, eingesperrt zu sein.
»Wir bringen jetzt den Hund zu mir nach Hause«, sagte ich, »bis wir jemanden finden, der ihn haben will, weit weg am besten. Und weißt du, was wir dann als Nächstes machen?«
»Nee«, sagte Lotta.
»Nachdem ich mit meinem Plan für René und für Frau Hemke und Herrn Wenter fertig bin«, sagte ich feierlich, »befreien wir diese Kühe. Es sind fünfzehn, ich habe gezählt.«
Lotta zögerte eine halbe Sekunde.
»Okay«, sagte sie dann.
Ich schlug die Mappe zu. EINTRAG 6 war wieder unleserlich. Eine Weile ließ ich meinen Blick durch die Küche gleiten, wo ich gesessen und gelesen hatte, und atmete tief durch. Auf der Stufe vor der Verandatür lagen zwei Narzissen. David hatte Narzissen gemocht, er hatte jedes Frühjahr Arme voll Narzissen mitgebracht, die er hinten bei den alten Weiden pflückte, wo sie wild wuchsen. David war
Weitere Kostenlose Bücher