Paradies für alle: Roman (German Edition)
nicht da.
Ich öffnete die Verandatür und hob die beiden Narzissen auf, um sie in ein Glas Wasser zu stellen.
»Lotta«, flüsterte ich. Lotta musste hier gewesen sein. Sie hatte die Narzissen für David gepflückt und sozusagen hier abgegeben. »Lotta.« Der Name war auf einmal sperrig auf meiner Zunge. Er schmeckte nach billigem Kaugummi, Angstschweiß und Urin, und ich schüttelte mich.
Die bedingungslose Liebe, die dieses kleine Mädchen meinem Sohn entgegenbrachte, war mir unheimlich. Zum einen rührte sie mich, und zum anderen löste sie in mir den Wunsch aus, zu Lotta zu gehen und sie anzuschreien. Du bist eine eigene Person!, wollte ich schreien. Du musst nicht alles tun, was David sagt! Doch da war noch ein drittes Gefühl, das Lotta in mir weckte, und das war das unheimlichste.
Eifersucht.
Ich war rasend eifersüchtig auf Lotta. Vielleicht war sie verrückt, auf ihre eigene Weise, anders als René. Aber sie konnte … Dinge. Sie konnte über Mauern klettern, unsichtbare Mauern, sie hatte es bei meiner versucht … und es war ihr gelungen, sich einen Platz in Davids ebenfalls irgendwie verrückter Welt zu schaffen. Ich, dachte ich, hatte darin keinen Platz.
Ich erinnerte mich an die Sache mit der Torte.
Warum hatte ich nicht weiter nachgefragt? Hätte ich mich dazu breitschlagen lassen, einem mir unbekannten Mann ein Stück Torte mit aus-unserer-Hausapotheke entwendetem Schlafmittel zu verabreichen, damit mein Sohn seinen Hund stehlen konnte? Wenn ich es getan hätte, hätte er geschlafen, und Lotta wäre nichts geschehen – was auch immer geschehen war. Ich war mir nicht sicher. Ich zog es vor, nicht genauer darüber nachzudenken.
Es war abstrus: David hatte es geschafft, dass ich auf einem Umweg schuld an etwas war, von dem ich gar nichts gewusst hatte. An wie vielen anderen Dingen war ich schuld, ohne es zu wissen? Ich legte den Kopf auf die Arme und versuchte, mir unsere Gespräche im letzten halben Jahr in Erinnerung zu rufen –
»Lovis?«, sagte Claas. »Da ist jemand für dich an der Tür.«
Ich fuhr auf. »Wieso bist du zu Hause?«
Er zuckte mit den Schultern. »Es ist halb sieben. Ich habe um fünf Schluss.«
»Du hast immer um fünf Uhr Schluss. Du bist nie um halb sieben zu Hause.«
Sein Gesicht war ernst, zu ernst, und ich merkte, wie mir zugleich kalt und heiß wurde.
»Ist … ist etwas passiert?«
»Da ist jemand für dich an der Tür«, wiederholte Claas. »Sie stand schon da, als ich kam. Vielleicht hast du die Klingel nicht gehört.«
Ich stand auf und ging an ihm vorbei, die Ledermappe unter dem Arm wie ein kleines Kind, das ich beschützen musste. Vor der Tür stand eine junge Frau mit blonden Haaren und großen braunen Augen. Sie hatte den leeren Blick von Kühen, die ihr Leben lang in Boxen stehen.
»Hallo«, sagte ich zögernd. »Sie sind … die Tochter der Marie.«
Sie nickte. »Celia«, sagte sie. Es war seltsam, dachte ich, als wäre sie plötzlich aufgetaucht, weil ich etwas über sie gelesen hatte.
»Hat er die Kühe wirklich entführt?«, fragte ich.
»Die Kühe?«, fragte Claas hinter mir.
Celia sah mich nur weiter mit ihren großen braunen Augen an.
Dann streckte sie mir ihre Hände entgegen, und in diesen Händen hielt sie ein Bündel, das in eine Decke gewickelt war.
»Ich wollt es Ihnen nur zeigen«, sagte sie. »Er hat gesagt, ich soll’s Ihnen zeigen, wenn’s da ist. Ich bin jetzt wieder zurück aus die Klinik.«
»Wer hat gesagt … was?«, fragte ich und schlug, plötzlich vorsichtig, eine Ecke des Deckenbündels zurück. Darunter kam ein winziges, blasses Gesicht mit einer feinen Nase und fest geschlossenen Augen zum Vorschein. »Du meine Güte«, sagte ich. »Ist das … Ihres?«
Celia nickte und lächelte mich an. Sie hatte noch immer beide Arme vorgestreckt, als präsentierte sie mir ein Tablett und kein Kind, aber zumindest hielt sie den Kopf des Babys mit der einen Hand, vermutlich hatte irgendwer in der Klinik ihr also gesagt, dass das wichtig war. Ich versuchte, zu schätzen, wie alt Celia war. Achtzehn, höchstens.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Claas. Ich sah mich nach ihm um, und sein Gesicht war auf einmal seltsam verklärt, als hätte jemand ihn mit den Narzissen in eine Vase gestellt, damit er aufblühen konnte. »Darf ich es mal halten?«, fragte er.
Celia nickte wieder und streckte das Tablett-Kind Claas entgegen, und in seinen riesigen Armen schien das Bündel völlig zu verschwinden. Ich erinnerte mich, wie
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