Paradies für alle: Roman (German Edition)
in seinem fleckigen Schlafanzug. Es waren nur ein paar Meter. Der Engel stand ganz still. Ich wünschte, er hätte Flügel, um wegzufliegen.
»Ha«, sagte Tielow und holte aus, und dann schlug er den Engel ins Gesicht. Ich schnappte nach Luft. Das Gold in den Haaren des Engels zerkrümelte und rieselte auf die Erde wie Schnee.
Ich dachte, dass ich etwas tun musste, aber ich konnte nicht, weil ich den Hund nicht loslassen durfte.
Herr Tielow stieß den Engel rückwärts, und der Engel ließ das Schloss los und fiel hin. Er fiel auf den Boden des Hundezwingers. Herr Tielow war zu wütend, um zu merken, dass der Hund nicht mehr da war. Er beugte sich über den Engel und blieb einen Moment so stehen, und ich sah, dass der Engel versuchte, seinen Kopf zu schützen.
»Ha«, sagte Herr Tielow, und noch einmal: »Ha.« Aber er schlug nicht noch einmal zu, er hob das Schloss auf und ging rückwärts aus dem Zwinger und machte die Tür zu.
»Da kannste dir mal überlegen, ob du weiter meine Kirschen klauen willst«, sagte er und nickte. »Und ich kann mir überlegen, was ich mit dir mache. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Damit drehte er sich um, oder er wollte sich umdrehen, denn das sah ich nicht mehr. Ich rannte.
Ich rannte mit dem Hund auf den Armen von dem eingesperrten Engel weg, von Herrn Tielows Fäusten weg, von der Zwingertür weg, die das Paradies jetzt wieder verschloss. Ich rannte den Weg entlang auf den Wald zu, den sanften Hügel hinauf und wieder hinunter, und dann blieb ich einen Moment lang keuchend stehen. Die Hügelkuppe lag jetzt zwischen Herrn Tielow und mir, und er konnte jetzt nicht sehen, wohin ich ging. Am Ende des Weges wiegte sich der Wald im Nachtwind, und davor erhoben sich zur Linken als schwarze Scherenschnitte die Gebäude des Bauernhofs. Der Wald war zu weit. Ich entschied mich für den Bauernhof.
Ich war nie dort gewesen, es war nicht die Art von Hof, auf der man als Kind herumschleicht und Kaninchen streichelt. Ich wusste nicht mal, ob es überhaupt Tiere dort gab oder ob sie nur Dinge wie Raps und Weizen anbauten. Als ich dort ankam und mich umdrehte, war auf dem Weg im Mondlicht niemand zu sehen. Vielleicht war Tielow mir gar nicht gefolgt. Man konnte ja hoffen, dass er mich nicht gesehen hatte.
Vor den großen, eckigen Betonbauten des Hofes standen ein paar riesige Landmaschinen, die in der Nacht wirkten wie Skelette von Dinosauriern. Ich fand eine offene Tür, hinter der etwas schnaubte und atmete, und einen Moment lang erschrak ich, aber dann merkte ich, dass es nach Mist stank, und ich lächelte. Dort, in der Dunkelheit, schnaubten und atmeten Kühe.
Ich würde den schlafenden Hund zu ihnen ins warme Heu legen und zurückgehen, um Lotta zu befreien, vielleicht konnten wir alle drei dort im behaglichen Frieden des Kuhstalls übernachten, wie in einem Bilderbuch …
Ich betrat den Stall und knipste meine Taschenlampe an.
Ich stand in einem schmalen, betonierten Mittelgang zwischen Gittern. Hinter den Gittern standen die Kühe. Sie hatten jede für sich nur so wenig Platz, dass sie sich nicht umdrehen konnten. Ihre Hufe standen auf einem Rost, vermutlich, damit der Mist einfach durchfiel. Es gab kein Heu.
Über mir liefen die Schläuche einer Maschine, die vielleicht zum Melken da war. Die Augen der Kühe, die mich ansahen, waren schlaflos und leer. Ich schluckte. Ich legte den Hund auf den kahlen Betonboden, weil es nicht anders ging.
Dann sah ich, dass ganz hinten in dem Flur eine Person auf einem Stuhl saß. Ich trat vorsichtig näher, die Taschenlampe erhoben wie eine Waffe, falls es eine gefährliche Person war.
Die Person hatte die Augen geschlossen. Sie trug ein pinkfarbenes T-Shirt voller Flecken und eine schwarze Trainingshose, und ihr Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, so als schliefe sie. Ich hatte sie irgendwo schon gesehen.
»Hallo«, sagte ich leise, da erschrak sie und riss die Augen auf, die groß und braun waren, wie die der Kühe. In dem Moment, in dem sie mich ansah, fiel mir ein, wer sie war: Die Tochter der Marie. Manchmal saß sie vor dem Haus der Marie am Rand des Dorfs.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
»Ich arbeite hier«, sagte die Tochter der Marie und fuhr sich mit einer verschlafenen Hand durchs Gesicht.
»Jetzt? Nachts?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaub, ich bin eingeschlafen. In der letzten Zeit bin ich immer so müde …« Sie strich sich die blonden Haare aus den Augen, und ihre Finger waren dünn wie Zweige. Sie war überall dünn,
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