Paradies für alle: Roman (German Edition)
nichts. Ich drehte mich zu ihm um. Die Schattenschwester verschwand lautlos durch die stets offene Flurtür.
»Warum hat keiner von den Ärzten es mir gesagt?«, fragte ich.
»Was?«
»Das Bein. Davids Bein. Claas hat es mir gesagt.«
Er trat neben mich. Eine Weile standen wir zusammen da, still wie vor einem Altar, und sahen den Körper an, der reglos vor uns im Bett lag. Unterhalb der linken Hüfte gab es nur noch einen Verband. Davids rechtes Bein, das neben dem nicht mehr vorhandenen lag, sah merkwürdig verloren aus. Auch merkwürdig blass. Mir war ein wenig übel, und ich schämte mich dafür.
»Wussten Sie es nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hatte einen Leberfleck direkt unter dem linken Knie«, flüsterte ich, kaum hörbar. »Er ist so oft auf die hingefallen, früher, und ich habe Jod auf seine aufgeschürften Knie gepinselt, und immer war da dieser Leberfleck …«
Samstag räusperte sich noch einmal. »Besser, ich sage das dann auch gleich. Frau Berek … Lovis … wir sind uns nicht sicher, ob das rechte noch ausreichend durchblutet ist. Es kann sein, dass er auch das verliert.«
»Er wird nie wieder laufen«, sagte ich tonlos. »Niemand kann auf zwei Beinprothesen laufen.«
Damit drehte ich mich um und ging.
Samstag fand mich eine halbe Stunde später im Lager.
»Hier sind Sie«, sagte er.
»Nein«, sagte ich und gab es auf, ihm zu sagen, er solle mich duzen. »Ich bin nicht hier. Das ist nur ein Schatten. Gehen Sie weg.«
»Warten Sie«, sagte er und beugte sich über mich. »Sie versuchen noch immer, diese Texte zu entziffern, oder?«
»Er hat jedes Mal das System gewechselt. Bei jedem Eintrag. Er war … es ist … ihm wirklich wichtig, dass die Sache geheim bleibt. Diesmal komme ich nicht dahinter.«
Thorsten Samstag betrachtete die Seite, die ich aufgeschlagen hatte. »Sehen Sie es nicht?«
»Was?«, fragte ich.
»Etwas fehlt. Es ist wie mit Davids Bein. Sie sehen nicht, dass etwas fehlt.«
Ich starrte die Buchstaben an, feindselig, mit brennenden Augen. Sie brannten von der Anstrengung, nicht zu heulen. »Was?«
»Die Vokale sind nicht da«, sagte Samstag. »Sie müssen akzeptieren, dass etwas fehlt, damit Sie weiterkommen.«
»Sie hören sich an wie Rosekast«, murmelte ich. »Der Philosoph.«
Aber da hatte er das Lager schon verlassen, um nach irgendeinem piependen Gerät zu sehen.
Werkstattbericht – Eintrag 6
9. 12. 2011
Liste der Lösungen von Problemen:
Herr Wenter – Edeka Kasse Bücher
René – Blitz
Frau Hemke – Kirche
Hund – Schule
Kühe – Celia
Als ich Lotta diese Liste vorgelesen habe, hat sie sie nicht verstanden. Daher folgt nun eine Erklärung.
Ad 1) Herr Wenter.
(Falls Sie das nicht wissen: Ad ist Latein und heißt »zur Erläuterung von« oder »ergänzend ist zu bemerken«.)
Herr Wenter wäre beinahe vergessen worden, bei all den anderen Dingen, die wir erledigen müssen. Ich habe mich aber doch erinnert und unauffällig mit ihm gesprochen. Er sagte, Leute hätten ihm in letzter Zeit Dinge in den Briefkasten gesteckt, zum Beispiel eine Packung Tabletten, aber er hätte sie nicht genommen, weil man bei so was nie weiß und weil er überhaupt nicht gerne Tabletten nimmt. Herr Wenter hat leider kein Internet, wo er hätte nachsehen können, was für Tabletten es waren und ob er sie nehmen möchte. Er hustet immer noch und war immer noch nicht beim Arzt, und Lotta findet auch, dass er blasser ist als früher. Und dünner. Ich habe mir daher eine neue Methodik ausgedacht, um Herrn Wenters Vertrauen in Ärzte, zu denen er bald gehen muss, herzustellen.
Beim Edeka gibt es an der Kasse Bücher zu kaufen, die für Leute gemacht werden, welche eigentlich keine Bücher lesen. Es gibt Bücher über Vampire oder über Liebe oder über niedliche kleine Mädchen, aber am meisten Bücher gibt es, erstaunlicherweise, über Ärzte. Sie sind sehr billig, weil das Papier eher dünn ist.
Das erste Buch, das ich vorgestern gekauft habe, hieß DER ARZT IHRES VERTRAUENS, und auf dem Titelbild untersuchte ein junger, netter Arzt eine junge, nette Frau mit einem Stethoskop am Busen. Beide lächelten. Ich habe Herrn Wenter das Buch ganz ohne Begleitschrift in den Briefkasten gelegt, damit er wiederum nicht weiß, dass es von uns ist. Ich denke, wenn er es sieht, wird er das Titelbild spannend finden und das Buch lesen, so dass er sieht, wie gut man Ärzten vertrauen kann. Morgen werde ich das nächste Buch in seinen Briefkasten stecken, ich habe es
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