Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
schwankte, flatterte und schlug mit den Flügeln, bis es ausgeblutet war und starb. Dann wurde es gerupft und kam als Sonntagsbraten auf den Tisch.
Das war Vincents Lieblingsgeschichte. Besonders die Stelle, wenn der Kopf abgerissen wurde. Schon mehrmals hatte er versucht, das Gleiche zu tun, bei irgendwelchen Tieren, die ihm in die Quere kamen.
Aber eigentlich langweilte es ihn, Tiere zu töten. Es kam ihm vor wie eins dieser Klischees aus einem Krimi, die ihm auch nie den Kick gaben, nach dem er sich innerlich sehnte. Mit vierzehn suchte er nach einem neuen Nervenkitzel. Einem richtigen Nervenkitzel.
Er tötete zum ersten Mal einen Menschen.
Sie war zehn, ein süßes, kleines blondes Ding mit Sommersprossen auf der Nase. Sie hatte ein Glücksbärchi-T-Shirt an, in Rosa und Grün. Doch sosehr er sich auch bemühte, er kam einfach nicht mehr auf ihren Namen.
Nancy? Natalie? Klang beides nicht richtig. Naomi? Nein. Auch nicht.
Es ließ ihm zwar keine Ruhe, doch in Wahrheit spielte es keine Rolle. Denn abgesehen von dieser Kleinigkeit war der Augenblick selbst tief in sein Gedächtnis eingebrannt. Jedes Wort, das sie gesprochen hatten, der Weg, den sie gegangen waren, ihr verwöhnter, unschuldiger Gesichtsausdruck.
Es stimmt, was so behauptet wird. Das erste Mal vergisst man nie.
»Wo gehen wir denn hin?«, hatte sie gefragt.
»Hab ich dir doch gesagt«, antwortete Vincent. »Wir gehen Eis essen.«
»Hier draußen?«
Sie liefen durch den Wald in der Nähe des Hauses, in dem Vincent wohnte. Er versuchte, das Schwindelgefühl zu unterdrücken, und fragte sich, ob irgendjemand sie auf dem Weg in den Wald gesehen hatte. Wahrscheinlich nicht.
Noch fester umklammerte er den Stein in seiner Jackentasche und sagte: »Ich musste das Eis verstecken. Meine Mutter will nicht, dass ich Süßes esse. Eiscreme schon mal gar nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Ich bin Diabetiker. Kriege jeden Tag eine Spritze.«
»Ihh!«, machte das Mädchen. »Spritzen mag ich nicht. Tut es weh?«
»Inzwischen nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Man gewöhnt sich daran.«
Beinahe hatten sie die Stelle erreicht, eine kleine Lichtung, wo Vincent ein Loch gegraben hatte. »Wir sind gleich da«, sagte er. »Was ist dein Lieblingsgeschmack?«
»Schoko-Pfefferminz. Und deiner?«
»Auch. Ich habe auch ein paar Hörnchen gekauft.«
»Ehrlich?«
Vincent nickte. »Gezuckerte. Wie die von Baskin-Robbins.«
Da lächelte das Mädchen ihn an. Er sah, wie aufgeregt sie war. Malte sich in ihrem beschränkten, winzigen Verstand wahrscheinlich schon ein Eishörnchen mit zwei Kugeln aus. Hier draußen im Wald bei dieser Hitze und einem Heer von Ameisen würde sich eine Packung Eiscreme keine zehn Minuten lang halten, aber auf den Gedanken kam sie gar nicht, denn dafür war sie zu dumm.
Nachdem sie an einer letzten Baumgruppe vorbeigegangen waren, erreichten sie die Lichtung. Das Mädchen stutzte und zeigte auf sein Werk.
»Sieh mal«, sagte es und blieb stehen. »Hier hat jemand ein Loch gegraben. Meinst du, es war ein Kojote?«
»Kann sein«, sagte Vincent.
»Kojoten mag ich nicht.«
»Warum denn nicht?«
»Mein Dad hat gesagt, sie haben Melody gefressen.«
»Wer ist Melody?«
»Meine Katze. Sie ist letzten Monat verschwunden.«
»Oh«, sagte Vincent. »Wie sah sie denn aus?«
»Orange und weiß, mit Streifen und einem kleinen schwarzen Fleck an der Nase.«
Vincent lächelte und zog den Stein aus der Jackentasche. Sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb. Er sagte: »Ich glaube, an die erinnere ich mich.«
Es war ein unbefriedigender Mord gewesen. Wahrscheinlich deshalb, weil das Mädchen zu dumm war, zu verstehen, was geschehen würde. Ihre Reaktion war nicht unbedingt so, wie Vincent es sich vorgestellt hatte. Sie hatte ihn nur verwirrt angestarrt und »au« gesagt. Dann war sie wie ein leerer Sack zu Boden gefallen.
Er hatte in Erwägung gezogen, sich auf ihren Hals zu stellen, aber bei ihrer Größe hätte das keinen Sinn gehabt. Stattdessen schlug er noch einige Male mit dem Stein auf sie ein, bis sie schließlich tot war. Zu beobachten, wie ihre Augen erloschen, hatte ihn kurzfristig erregt, aber er war viel zu schnell gekommen, in seine Hose. Alles viel zu hastig.
Die eigentliche Befriedigung hatte sich erst nach der Tat eingestellt. Beim Anblick ihres zerschmetterten Schädels hatte er gedacht: Wie wunderschön. Später, als Polizei, Feuerwehr und sämtliche Nachbarn nach dem verschwundenen Mädchen suchten, hatte er zum ersten
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