Paranoia - Hoer Auf Ihre Stimme
Wald und zerteilte sie in ein Dutzend Stücke, die er auf dem Boden in verschiedenen Arrangements auslegte. So schuf er etwas, das man einfach als Kunstwerk bezeichnen musste.
Er wünschte, er hätte eine Kamera bei sich gehabt. Etwas, womit er diesen Moment hätte einfangen können. Er hatte seinen Zeichenblock aus dem Kofferraum geholt, ein paar Skizzen angefertigt und Blutspuren auf dem Papier hinterlassen – doch Zeichnen war noch nie seine Stärke gewesen. Wie sein Namensvetter war er weniger an der Zeichnung selbst als vielmehr an der Farbe interessiert: grobe Striche, die seiner Stimmung und seinen Emotionen Ausdruck verliehen. Eine einfache Zeichnung konnte so etwas nicht einfangen.
Inzwischen besaß Vincent eine Kamera. Ein Acht-Megapixel-Perfektionsgerät, das sein Werk so glasklar einfing, dass man beinahe das Gefühl hatte, man sei anwesend.
Vor zwei Jahren, kurz bevor er nach Ocean City kam, hatte er die Kamera gekauft und ein Vermögen dafür bezahlt. Zu jenem Zeitpunkt hatte er als Künstler bereits zu sich selbst gefunden – er schuf blutige Meisterwerke. Sein Werk schrie geradezu danach, fotografiert und für die Ewigkeit festgehalten zu werden.
Seit etwas mehr als einem Jahr widmete er sich nun der Kreation seiner abstrakten Sammlung. Bei der Ersten, einer jungen Bardame namens Trudy Dewhurst, hatte er einen Moment der Inspiration verspürt – einen plötzlichen Impuls, seinem Lieblingsmaler zu huldigen. Er hatte Trudy das linke Ohr abgeschnitten.
Das Werk an sich erinnerte eher an Picasso, Cézanne oder sogar Gleizes. Doch van Gogh mit seiner ausgeprägten Farbgebung und den deutlichen Pinselstrichen hatte ihn schon immer inspiriert.
Sein Genie. Sein Wahnsinn. Seine Weigerung, sich anzupassen.
Trudy das Ohr abzuschneiden, war Vincents Hommage an sein Vorbild. Das Zeichen, das er auf der Innenseite ihrer Unterlippe hinterließ – der kleine Smiley –, war ein Hinweis, ein kleines Ärgernis für die Polizei. Seine Art, zu sagen: Ihr könnt mich mal.
Doch Dr. Michael Tolan hatte all das zunichtegemacht.
Sieben neue Werke, eines perfekter als das andere – und dieser Hochstapler, dieser Betrüger und Scharlatan, dieser … dieser Kretin hatte alles zerstört, woran Vincent gearbeitet hatte.
Als er zum ersten Mal von dem Mord an Abby Tolan hörte und aus dem Fernsehen erfuhr, dass man ihm die Tat zuschrieb, dachte er, er bekäme einen Herzanfall. Sein Brustkorb zog sich zusammen, sein Kopf dröhnte, er konnte kaum atmen vor Wut. Am liebsten wäre er auf den Balkon gestürzt und hätte den Mond angeheult. Doch er beherrschte sich. Bemühte sich, seine übliche Kälte zurückzugewinnen.
Er konnte kaum glauben, was berichtet wurde, doch am nächsten Morgen stand dick und fett in der Zeitung:
VAN GOGH FORDERT ACHTES OPFER
Die Worte brannten sich in seine Netzhaut ein, als hätte ihm jemand die Augen verätzt. Was niemand verstand – und auch nicht verstehen konnte –, war, dass seine Objekte keine Opfer waren. Ein Opfer wurde geopfert – in gewisser Weise ausgebeutet. Vincents Objekte dagegen wurden veredelt. Er hütete sie wie einen Schatz. Er betrachtete sie als Kostbarkeiten, so wie andere Künstler Leinwand, Farben und Pinsel.
Sie waren keine Opfer, sondern Werkzeuge, und für ihn ebenso von Bedeutung wie Kamera, Säge und Messer. Sie waren ein Mittel zum Zweck. Denn immer heiligte der Zweck die Mittel.
Sein achtes Objekt – im Vergleich zu seinem Frühwerk eine lächerliche Zahl – hatte sich Vincent noch nicht ausgesucht. Natürlich hatte er über verschiedene Möglichkeiten nachgedacht, doch selbst wenn er gewusst hätte, dass Abby Tolan überhaupt existierte, wäre sie nicht in Frage gekommen.
In der Zeitung stand, sie fotografierte Prominente. Ihre Arbeiten wurden im Rolling Stone und in Newsweek veröffentlicht und in den renommiertesten Galerien des Landes gezeigt. Die Proben, die abgedruckt wurden, waren erstklassig. Genial.
Eine Woche nach dem Mord brachte New Times eine Biographie, einen ziemlich morbiden Bericht mit dem Titel ›Studie in Dunkel‹, der einige Fotos enthielt, die Abby kurz vor ihrem Tod gemacht hatte. Eindrucksvolle Aufnahmen von den verfallenen Ruinen in der Nähe der Baycliff Klinik. Schwarzweißbilder eines ehemals stattlichen Bauwerks, verkohlte und baufällige Gänge, ein Duschraum mit vermoderten, zerbrochenen Fliesen, ein Tisch zur Schockbehandlung mit ausgefransten Gurten für Hand- und Fußgelenke.
Diese Fotos berührten
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